Bärbelchens Augen weiteten sich vor Staunen, als aus dem Kessel plötzlich ein kleiner Merlin und eine kleine Morgane erschienen und mit zu plaudern begannen. Sie klatschte fröhlich in die Hände und verlangte nach mehr.
„Hast du vielleicht Lust, deinen Großvater zu treffen?“ fragte Merlin freundlich.
„Meinen Großvater! Aber der ist doch schon gestorben, das weißt du doch!“
Merlin brummelte irgendetwas Unverständliches in seinen Bart, worauf er wieder seinen Zauberstab schwang: dreimal geschwungen, Zauber gesungen, schon gelungen, und hast du’s nicht gesehen, standen wir drei schon auf einer wunderschönen Frühlingswiese. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, die Blumen blühten, alles war, wie es sich für eine Frühlingswiese gehört. Bärbel staunte: „Oh, hier bei euch ist Frühling! Wie seltsam, bei uns daheim ist doch aber Herbst! Wie ist das möglich?“
Ich antwortete: „Ach weißt du Bärbel, wir haben hier immer die Jahreszeit, die wir gerade wollen, das ist ganz einfach!“
„Ja, aber wenn du und Merlin euch nicht einigen könnt, was ist dann?“
„Nun, dann hat eben jeder seine eigene Jahreszeit, das ist auch nicht weiter schlimm.“
Bärbel fand das alles sehr bemerkenswert. Nachdenklich schlenderte sie über die Wiese, roch versonnen an dieser und jener Blume, betrachtete die Bäume, die ihr mit Laubhänden zuzuwinken schienen und bemerkte dann voller Verwunderung eine Gruppe von Menschen, die gerade dabei waren, in einem Bach zu baden. Sie plantschten und spritzten wie übermütige Kinder, dabei waren doch alle mindestens schon erwachsen oder noch älter. Ihr Lachen klang froh über die Wiese.
„So“, sagte ich zu Bärbel, „jetzt ruf mal deinen Opa!“
Ein ungläubiger, verwunderter Blick traf mich. Sie fragte:
„Wo bitte, soll denn hier mein Opa sein? Ich habe euch doch erzählt, dass er im Rollstuhl gesessen ist und dann gestorben!“
„Ach, ruf’ ihn doch einfach einmal, dann werden wir schon sehen. Wie heißt er denn eigentlich?“ fragte ich.
Wieder ein Blick aus Bärbels Augen, diesmal leicht vorwurfsvoll: „Na Opa eben, wie soll er denn heißen!“
Ich gab der Kleinen zu bedenken, dass, wenn sie einfach nur Opa rufen würde, vielleicht ein Dutzend Opas gelaufen kämen. Sie dachte einen Augenblick nach und antwortete dann:
„Na, wenn du es sagst, ich glaube aber, es ist nicht einmal ein einziger Opa hier, aber bitte, wenn du meinst...“, und sie rief, laut und vernehmlich: „Friedrich Haushofer, Opa, bist du hier irgendwo?“
Ein hoch gewachsener, kräftiger Mann mit noch nicht einmal einem einzigen, grauen Haar auf dem Kopf wandte sich verwundert um und blickte zu uns her. Er kniff seine Augen zusammen, um deutlicher sehen zu können. Dann kam er mit weit ausholenden Schritten auf uns zu gelaufen. Schon war er da, hob die kleine Bärbel hoch und drückte sie zärtlich an sich. Bärbel machte sich ganz steif und zappelte. Sie rief: „Lass mich sofort herunter! Meine Eltern haben gesagt, ich darf mich von keinem Fremden anfassen lassen!“ Der ‚Fremde’ lachte dröhnend, wirbelte Barbara herum, wie sie es früher einmal so gerne gehabt hatte, als sie noch klein war und sprach dann ganz ernst zu ihr:
„Bärbelchen, wie bist du denn hierher gekommen? Das ist aber eine Freude!“
Bärbelchen bemerkte ein altes, goldenes Medaillon, das der Fremde um den Hals trug. Es war genau das gleiche Medaillon, mit dem ihr Opa begraben worden war. Konnte es wirklich wahr sein? War er es doch? Aber wieso war er so jung und kräftig und nicht tot? Sie hatte ihn doch in seinem Sarg liegen sehen! Verunsichert sah das Mädchen von Einem zum Anderen, es verstand überhaupt nichts mehr. Merlin räusperte sich. Er wusste, es war Zeit für einige Erklärungen:
„Nun also, das ist so: dein Opa ist nur in deinem Land tot. Er hat einfach seinen müden, alten Körper abgelegt, weil er ihn hier ohnehin nicht brauchen kann. Hier, im Land in der Wand, sucht sich jeder den Körper aus, den er mag. Das ist so wie mit dem Wetter, du weißt schon. Hier geschieht alles, was sich jemand denkt, gleich und sofort, in einem Augenblinzeln. Das hier ist eben ein besonderes Land, hier wird gezaubert, auch ohne Kessel und Zauberstab. Diese Dinge brauchen wir nicht wirklich, das war nur Theater für dich.“
Opa nickte zustimmend. Dann nahm er sein Medaillon ab und legte es Bärbel um den Hals. Er sagte:
„So, meine Kleine, hier ist ein Andenken an mich. Wenn du wieder zu Hause bei dir bist, denke an mich, so wie du mich jetzt siehst, und sei nicht mehr traurig. Eines Tages wirst du auch wieder hierher kommen, dann gibt’s ein Wiedersehen. Bis dahin wünsche ich dir ein wunderschönes Erdenleben.“ Er küsste sie und weg war er, wie nie da gewesen. Wir aber standen wieder in der Küche. Es war nun Zeit für Bärbelchen, wieder zurückzukehren, in ihr Land, das Land vor der Wand, wo sie hingehörte, zumindest die meiste Zeit. Sie bedankte sich höflich für unsere Gesellschaft, dann schwang Merlin wieder den Zauberstab: dreimal geschwungen, Zauber gesungen, alles gelungen, und weg war sie. Ich hörte ihre klare Stimme noch auf der anderen Seite der Wand: „Das Zaubern, das muss ich jetzt hier auch gleich versuchen, das ist ja das Größte!“ Ich rief ihr noch nach, dass das in ihrer Welt nicht so schnell gehen würde, wie hier bei uns, aber ich glaube, das hat sie nicht mehr gehört. Nun, sie wird es schon lernen, mit der Zeit, und Zeit hat sie ja, viel Zeit.
Ob das Loch in der Wand noch existiert, wollt ihr wissen? Und was die Eltern von Bärbel für Augen gemacht haben, als sie das Medaillon an ihrem Hals sahen? Das wäre schon wieder eine neue Geschichte, und dafür ist für uns jetzt keine Zeit mehr, leider! Vielleicht ein andermal, nächstes Jahr gibt es auch wieder ein Halloween!
Aus der Hexenschule
Lektion 1 aus dem geheimen Hexenbuch
Samhain
Die Hexen feiern acht Jahresfeste. Stelle dir dafür das Jahr als ein Rad mit acht Speichen vor. Die erste Speiche davon ist unser heutiges Halloween. Die Hexen nennen es Samhain (ausgesprochen wie Sauhuin). Vor langer Zeit, in der so genannten Jungsteinzeit, lebten die Menschen noch von einer sehr einfachen Form der Landwirtschaft. Alle Tiere, die nicht zur Erhaltung der Herden dienten, also Muttertiere und ein Vatertier, wurden zu diesem Zeitpunkt geschlachtet. Es gab einfach nicht genug Futter, um sie alle über den Winter zu bringen, und die Menschen brauchten das Fleisch auch für ihre Ernährung.
Die Menschen erlebten auch viel intensiver als wir heute, wie die Natur in dieser Jahreszeit scheinbar stirbt. Die Bäume verlieren ihr Laub, um nicht in der Kälte zugrunde zu gehen. Das Gras wird gelb und verdorrt. Die Zeit des Wachstums ist zu Ende. Das Leben zieht sich zurück in die Anderswelt, wo auch die verstorbenen Menschen hingehen und dort weiterleben. Kommt dir das bekannt vor? Vielleicht aus dem Religionsunterricht? Ja, alle Religionen glauben im Grunde das Gleiche. Sie sprechen nur in vielen verschiedenen Bildern zu uns.
Früher stellten sich die Menschen vor, dass zu dieser Zeit die Verstorbenen zu Besuch in unsere Welt kommen könnten. Einerseits freuten sie sich darüber, andererseits aber fürchteten sie sich auch davor. Sie stellten Essen für die Verstorbenen bereit. Sie gingen im Dunkeln nicht mehr vor das Haus, denn dort trieben sich die „Geister“ der Toten herum. Aus all diesen Vorstellungen entstand unser heutiges Halloweenfest. Die Kirche aber feiert an diesem Tag das Fest Allerheiligen. Es ist aus dem alten Totenfest Samhain oder Halloween entstanden. Die Kinder aber feiern dieses Fest auf ihre eigene Art. Sie verkleiden sich als Geister und Monster und erschrecken die Erwachsenen. Wir Hexen aber wissen, dass die Anderswelt nicht ein anderer Ort ist, sondern ein anderer Zustand unseres Bewusstseins. Wir lassen unsere Phantasie in diese Anderswelt reisen, um dort die Verstorbenen zu treffen.
Übrigens: immer, wenn du vor dich hinträumst, versonnen ins Nirgendwo guckst, eine Geschichte hörst, vielleicht dabei in der Nase bohrst oder deine Haare um die Finger wickelst, bist du schon ein klein Wenig in dieser Anderswelt. Aber natürlich kannst du in einem Augenblick wieder zurückkehren in die Welt der festen Dinge. In Wirklichkeit hast du dies Welt auch nicht richtig verlassen. Du bist ja immer noch hier. Deine Mutter weiß z. B. auch gar nicht, wo du dich gerade herumtreibst, während du auf der Couch herumlümmelst. Aber eigentlich sind wir alle immer ein wenig hier und dort. Es kommt nur darauf an, wohin wir unsere Aufmerksamkeit wenden.
Und nun wünsche ich allen kleinen und großen Hexen „Happy Halloween!“

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