Um den kleinsten Kiesel müssten wir, wollten wir ihn ganz
kennen, wahrscheinlich herumgehen wie die Blinden in dem bekannten
Gleichnis um den größten Elefanten, denn der Magier
wird unseren Stein anders sehen als der Geologe, der Archäologe
anders als die Heilerin, der Schamane und die Hexe anders als der
Historiker, die Priesterin anders als der Paläontologe, die
Juwelierin anders als der Zauberer und der Pharmazeut anders als
die Initiantin oder der weise Alte.
Jede und jeder wird eine andere
Geschichte vom Stein erzählen
können, und dies ist der Ort, um sie zu sammeln.
Meine Geschichte
Als Sechsjährige fand ich heraus, dass Sterne und Steine ebenfalls
zusammengehören, denn sie erzählen die gleichen Geschichten.
Meine Krankheit, mein Kummer, meine Angst würden vorüber
gehen, sagte mir der Stein in meiner Hand, und sein Lied, so langsam,
dass es nur aus einem einzigen, langen Ton zu bestehen schien,
war so ähnlich dem des Sterns genau über mir, den ich,
den Stein in der Hand, mit in den Nacken gelegtem Kopf betrachtete,
dass ich nach einer langen oder kurzen Weile sicher war, meine
Finger umschlössen mit dem Stein auch den Stern in meiner
Tasche.
Aber das war nur der eine Teil der Geschichte von der Vergänglichkeit,
die mir mein Sternstein erzählte. Der andere Teil handelte vom
langen Gedächtnis der Steine; den hörte ich aber erst,
als mir der Schreck wieder aus den Knochen gefahren war über
die Gier, mit der mein Leben nicht nur die unglücklichen, sondern
auch die glücklichen Momente fressen würde bis es, den
Bauch voller Wackersteine, in den Brunnen fiele.
Nichts, sagte der Sternstein da, ist je vergessen worden und nichts
wird je vergessen sein; in der Erinnerung der Steine (und der Sterne)
wird das Vergängliche dauern, bis auch sie vergehen – und
das schien mir damals eine sehr lange Zeit.
Der Stein meiner Mutter war kein Sternstein, sondern ein Wasserstein,
ein Aquamarin. Er sah aus wie ein schmales Rechteck, aus klarem
Eis geschnitten, mit blitzenden Kanten. In einen dünnen, goldenen
Ring war er gefasst, den meine Mutter immer trug, und an manchen
Tagen konnte ich die Haut ihres Fingers durch den Stein hindurch
sehen. Das waren die Tage, an denen meine Mutter krank wurde, ich
konnte es erkennen, auch wenn sie sich nichts merken ließ,
der Stein erzählte es mir, und ihre Augen wurden dann so blass
wie der Stein. An anderen Tagen war der Stein von einem zornigen,
klaren oder auch müden, trüben Grau; auch die Augen meiner
Mutter waren dann grau, milchig vor Müdigkeit oder wie Meerwasser
vor einer Springflut unter der dünnen Eisschicht des Zorns.
Das Meer aber liebte meine Mutter, und wenn sie liebte, waren
der Stein und ihre Augen aquamarinblau. Nie habe ich sie so blau
gesehen wie in unserem jährlichen Urlaub am Meer; selbst nasse
Regentage konnten die Farbe nicht auswaschen, und selbst ihr Zorn
war an der See blitzblau. Hätte sie den Ring verkaufen wollen,
sie hätte es dort am Strand tun müssen, denn dunkle Aquamarine
sind mehr wert als helle. Erst nach einer viertel Stunde hätte
der Käufer den Betrug bemerkt, denn so lange dauerte es – ich
beobachtete den Ring oft, wenn sie ihn zum Waschen oder Putzen
abnahm – bis der Ring, abgestreift, seine erstaunliche Farbe
verlor und die der Luft eines weißsonnigen Januartags annahm,
an dem man das Blau des Himmels eher darum sieht, weil man weiß,
dass es da sein sollte, denn deshalb, dass es wirklich da wäre.
Viel später, als Erwachsene, habe ich den Aquamarinring dann
von meiner Mutter geschenkt bekommen; zu meinem vierunddreißigsten
Geburtstag, als ich so alt wurde, wie meine Mutter gewesen war,
als sie mich geboren hatte. So wollte es der Brauch, ich hatte
das Geschenk gewusst, es war keine Überraschung und doch konnte
ich es kaum fassen, als meine Mutter den dünnen Goldreif von
ihrem Ringfinger zog und an meinen steckte. Er passte. Er passte,
und eine viertel Stunde später war der Stein so leblos, als
käme der Ring aus einem Kaugummiautomaten. „Ein bisschen
fettig“, sagte meine Mutter und schrubbte ihn unter fließendem
Wasser mit Spülmittel und Zahnbürste. Es half nichts. „Ich
verstehe das nicht“, sagte sie, besorgt, als hätte sie
mir ein schlechtes Geschenk gemacht, und sie steckte ihn an ihren
eigenen Finger zurück, mit der peinlich berührten Miene
einer Mutter, die ihrer besten Freundin das schreiende Baby wieder
aus den Armen nimmt, um es nicht zu offensichtlich werden zu lassen,
dass eben dieses Baby die Freundin nicht mag.
Innerhalb einer viertel
Stunde blitzte der Ring, als wäre
nichts geschehen, blau vor sich hin, aber nach einigen Wiederholungen
des Ringwechselspiels war es uns beiden klar, dass der Stein mich
tatsächlich nicht mochte. Sie schenkte ihn mir trotzdem. „Das
wird schon“, sagte sie anderntags beim Abschied mehr zu dem
Ring als zu mir, aber es wurde nie und ich bewahrte den Ring in
einem bestickten Medizinbeutelchen auf, das an meinem Altar hing.
Einundzwanzig Jahre später starb meine Mutter, wir beerdigten
sie am Walpurgistag, und ein halbes Jahr später, am Allerheiligenabend,
fiel mir zum ersten Mal eine Verwendung für den nie wieder
ans Tageslicht gekommenen Ring ein: ich würde ihn tragen,
wenn ich zum ersten Mal auch meine Mutter zum Mahl der Toten laden
würde. Ich zog also den Ring aus dem Beutel, in den ich ihn
vor mehr als zwei Jahrzehnten geschnürt und steckte ihn an
meinen linken Ringfinger: er passte immer noch. Während ich
all die kleinen Gegenstände zusammensuchte, die mich auf dem
Altar an die Toten erinnern sollten, warf ich von Zeit zu Zeit,
bemüht, es mir wie Zufall erscheinen zu lassen, einen Blick
auf den Ring: der war novembergrau, enttäuschend, doch zumindest
nicht unpassend. Was hatte ich eigentlich erwartet? Ich zog die
große Schublade meines einhundertfünfzigjährigen
Bücherschrank-Erbstücks auf und kramte nach Fotos: Urgroßmütter,
Großväter, Tanten, Cousinen. Dabei staubte der Ring
etwas ein, aber das machte nichts, da er ohnehin staubfarben war.
Die Stunden vergingen ziemlich schnell, aber zum Schluss war alles
dekoriert und aufgetragen, bis auf das ewige Licht auf dem Altar
war es erdendunkel, und ich strich ein Kaminholz an, um das erste
Teelicht in der ersten weißen Rübenlaterne anzuzünden.
Wie immer fing ich mit dem Licht für den ältesten Ahnen
an, weil er schließlich den weitesten Weg hatte, und bis
ich endlich bei der Rübenlaterne meiner Mutter angekommen
war, war es schon ziemlich hell im Zimmer. Ich warf einen Blick
aus dem Nordfenster, vor dem mein Stern stand, und einen auf die
Mitte des Altars, wo der Feldstein, der Sternstein lag. Dann hielt
ich das Streichholz an den Docht des letzten Teelichts, rief meine
Mutter und fragte mich noch, ob sie wohl kommen werde, als das
weiße Licht aus der weißen Rübenhöhle schien
und der Aquamarin an meiner Hand blau aufleuchtete.
Muss ich noch
betonen, dass es mir eine große Freude ist,
die Rubrik SteinWeise vom Dunklen Clown zu übernehmen und
(mit ihm zusammen, nehme ich an) auf eure Steingeschichten zu warten?
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