Ich-Befreiung - Die Selbsttäuschung erkennen
Die Natur des Geistes ist, aus der Sicht des Mahayana, leer. Jedoch nicht in der Form, dass da ein „Nichts“ wäre. Diese „Leerheit“ ist gleichzeitig klare Lichtheit.
Die „leere“ Natur, diese Weite und Offenheit ist fast wie ein riesiger Spiegel, ohne jedoch irgendeine fassbare Substanz oder Benennung zu haben, die alles ermöglicht. Sie wird jedoch missverstanden und als ein „Ich“ interpretiert. Die Klarheit der Erscheinungen, die ständig auftauchen, seien es Gedanken, Emotionen, Bilder und Phänomene sind Wiederspiegelungen der leeren, offenen Natur. Das, was sich in dem riesigen Spiegel ganz klar, unterschiedlich und ungehindert wiederspiegelt, wird als „anderes“ wahrgenommen. Als etwas außerhalb dieses „Ich“ stattfindendes.
Ist das Gesehene angenehm, entsteht der Impuls es dem „Ich“ einzuverleiben. Ist es unangenehm, wird es als „Feind“ klassifiziert. Vieles wird gar nicht wahrgenommen.
Bleiben wir beim groben Beispiel des Vergleichs des Phänomens „Ich“ mit dem im Teil II beschriebenen Gesicht:
Erstens: Das bloße Ich (Gesicht) ist nicht das Problem. Es dient lediglich als Grundlage zum notwendigen In-Kontakt treten mit der wahrgenommenen Welt (dem Spiegel und Wiederspiegelungen).
Zweitens: Sobald das Gesicht im Spiegel „sich sieht“ beginnt umgehend eine Identifizierung mit diesem Gesicht, das „da draußen im Spiegel“ vermeintlich gesehen wird und in Konkurrenz mit anderen dort wahrgenommenen Bildern tritt. Schön, hässlich, attraktiv, faltig, alt… alle Benennungen werden auf das Abbild im Spiegel gelegt, hineinprojiziert. Haben aber mit dem Gesicht tatsächlich nichts zu tun.
Drittens: Diese Projektion (Ich bin da, mich gibt es, denn es gibt etwas außerhalb das von mir wahrgenommen werden kann), steigert die „Selbst-Bestätigung“.
Viertens: Diese mündet in einer extremen Selbstbezogenheit, einer als real und dauerhaft empfundenen Ich-Wahrnehmung. Führt zu einer immer stärkeren Ich-Fixierung, zementiert die Täuschung.
Man beginnt also aufgrund der Betrachtung des eigenen Gesichts im Spiegel mit der Benennung: Ich bin schön, ich bin hässlich und so weiter. Diese Benennung, Selbst-Bestätigung führt dazu sich ebenso zu fühlen und immer stärker davon überzeugt zu sein, dass diese wahrgenommene Projektion wahrhaft vorhanden ist. Schließlich ist man wirklich davon überzeugt, dass man entweder tatsächlich „Schön“ und unvergleichlich ist ... oder eben einen Schönheitschirurgen benötigt.
Häuser, Menschen, Natur, Kriege, Autos, Tiere, Stolz, Begierde, Eifersucht, Neid, Hass, schreckliche bösartige Mütter... alles ist da, spiegelt sich wieder in den Erscheinungen, die da klar und ungehindert im „Spiegel“ der leeren Natur vor sich gehen und werden als tatsächlich vorhanden und außerhalb des "Ich" wahrgenommen.
Ich – Eine relative Notwendigkeit
Nach buddhistischem Verständnis gilt es, dieses „Ich“ klar zu erkennen als das was es ist. Nicht mehr als eine pure Notwendigkeit um, solange man in diesem dualistischen Weltgeschehen verhaftet ist und die leere Natur nicht wirklich erkannt hat, im Zusammensein mit den „äußerlich“ wahrgenommenen Menschen und Dingen dieses relativen Daseins, das bedingt-abhängig erscheint, in Kontakt zu treten und zu agieren.
Nicht mehr. Nicht weniger.
Und dabei klar zu unterscheiden zwischen Mann und Frau, Chips und Bier, Spaß, Freude und Ärger und so weiter und so fort. Ohne die relative und absolute Ebene zu vermischen.
Dieses "Ich" mit all seinen auftauchenden neurotischen Komponenten wird nun mit nichts anderem als dem "Werkzeug" der Meditation gesucht und untersucht. Die Meditation ist, bleiben wir beim Vergleich mit dem Gesicht, ein kleiner Kosmetikspiegel, der Dinge vergrößert und fokussiert.
Meditation ist, als würde man mit Hilfe eines Kosmetikspiegels das eigene Gesicht genauestens untersuchen. Mit diesem wird jedes Detail betrachtet und untersucht, in ihre Bestandteile zerlegt, benannt und erkannt.
Ohne eine Ablenkung.
Denn wie ist unser normales Leben?
Es ist wie als wären wir ständig mit dem riesigen Wandspiegel eines Ballettstudios konfrontiert, mit all den Erscheinungen, die hierin auftauchen, die ständig ablenken und die Betrachtung des eigenen Gesichts unmöglich oder zumindest schwierig machen.
Die Meditation des ruhigen Verweilens, Shamata, und der Analyse, Vipassana, fokussiert auf einen ganz bestimmten Bereich. Den kleinen Kosmetikspiegel und das Gesicht, dieses „Ich“, was darin zu sehen ist. Mehr nicht.
Das "bloße Ich" tritt über kurz oder lang dadurch klarer hervor.
Die aufgrund der ständigen Ablenkung auftretenden, fatalen und neurotischen „Ich-Konstrukte“, wie sie beim Nicht-Meditierer meist fast automatisch auftreten, werden nach und nach erkannt und aufgelöst.
Bis schließlich der Spiegel selbst als nicht vorhanden identifiziert wird. Und nur noch Leerheit-Klarheit untrennbar erfahren wird.
Befreiung ist die Folge.
Befreiung von dem, der all die Scheiße anrichtet.
Mir selbst.
Ende der Betrachtung des Phänomens „Ich“.
Möge dies von Nutzen sein
Mögen alle Wesen glücklich sein
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