In solcher Weise beschreibt der Buddhismus eine Welt, die auf allen Ebenen durch Dynamik gekennzeichnet ist. Mein ganzes Dasein ist Bewegung, in jedem Augenblick. Ich atme, mein Herz schlägt, mein Blut strömt, der gesamte Organismus ist in unablässiger Bewegung und unablässigem Austausch mit allem um ihn herum. Hört diese Bewegung auf, so endet das Dasein. Wenn aber die gesamte Erscheinungswelt solch ein unaufhörliches Strömen ist, was ist dann mit der vermeintlichen Festigkeit, derer wir uns für gewöhnlich so sicher sind? Was ist mit den Dingen um mich herum? Was ist mit mir? Was ist mit meiner Seele, mit meinem Selbst, also mit dem, was ich als absolut einzigartigen, geschlossenen und auf irgendeine Weise ewigen Kern meiner selbst erachte? Die für manche erschreckende Antwort des Buddhismus lautet: Nichts ist damit, denn es gibt kein Selbst, keine Seele im Sinne einer ewigen Persönlichkeit, und all die vermeintliche Festigkeit ist auch nur eine Illusion. Wir werden durch unsere Konditionierungen, unsere neurotischen Fixierungen und die daraus resultierenden positiven, neutralen und negativen Taten durch immer neue Existenzen gerissen und halten durch anhaltende Unbewusstheit diesen reißenden Strom aufrecht.
Wie alle Dinge dieser Welt erscheinen auch wir als Personen in Abhängigkeit von all den anderen Phänomenen. Wir sind zusammengesetzt, Resultat eines Zusammenwirkens vielfältiger Faktoren. Oder anders ausgedrückt: Die Faktoren, die eine Person konstituieren, wie etwa Name, Gestalt, Empfindungen und Gedanken, sind im höchsten Maße wandelbar. Die Person, die ich bin, ist ein Ereignis, ein dynamischer Prozess. Da existiert kein „Selbst“, das in irgendeiner Weise von allem anderen abgrenzbar wäre, denn auch das, was wir als „Selbst“ oder „Seele“ empfinden, ist doch auch nur Teil des Prozesses und entsteht aus kulturellen, soziologischen und psychologischen Faktoren.
Diese Abwesenheit eines Selbst, d.h. die Unmöglichkeit einer tatsächlichen Abgrenzung der Phänomene voneinander, einer unabhängigen Eigenexistenz, wird als Leerheit bezeichnet. Dieser Terminus unterliegt immer wieder allerlei negativen Fehldeutungen etwa im Sinne einer nihilistischen Sichtweise, tatsächlich jedoch handelt es sich um einen positiven Begriff. Illusion bedeutet, dass wir uns durch falsche, abgrenzende und zerspaltende Vorstellungen über uns und unsere Umwelt in Zustände der Beengung begeben, aus denen vielfaches Leid entsteht. Leerheit dagegen bedeutet die Überwindung dieses negativen Zustandes. Erst wenn wir das Gefängnis unserer erstickenden Konzepte Schicht für Schicht beseitigen, kann sich unser tatsächliches Potenzial entfalten.
Das, was an mir tatsächlich „ewig“ ist, also zeitlos und nicht bedingt, ist das, was mich ausnahmslos mit allem verbindet, weil es ausnahmslos alles umfasst. Da dieses eine aber unberührt bleibt von allem Bedingten und Begrenzten, ist es keine Person, kein Selbst, keine Seele. Es ist einzig ein allumfassendes Bewusstsein, das dem grenzlosen Raum gleicht und überindividuell ist. Es ist der Sugatagarbha, die verborgene Buddhanatur, die in gleicher Weise allen empfindenden Wesen zu eigen ist.
Nun reicht es natürlich nicht aus, lediglich ein intellektuelles Verständnis vom abhängigen Entstehen oder den verschiedenen Ebenen der Leerheit zu entwickeln, denn auf diese Weise fügen wir der großen Zahl unserer beengenden Konzepte nur ein paar neue hinzu. Dieses intellektuelle Wissen muss durch meditative Praxis geprüft, erfahren und freigelegt werden. So wird es zu einer tiefen, befreienden Erkenntnis, zur gnostischen Weisheit, die alle Erfahrungsebenen durchdringt und grundlegend verändert. So lauten die drei Säulen des Buddhismus: Lernen, Reflektieren, durch Anwendung erfahren.
Basierend auf solchen Sichtweisen hat der Buddhismus eine nahezu unüberschaubare Zahl geschickter Methoden entwickelt, um zu immer subtileren Ebenen des Bewusstseins und der Wirklichkeit vorzudringen, bis zur Erfahrungen der Buddhanatur selbst. Insbesondere der Vajrayana-Buddhismus greift in rituellen Meditationen auch auf vielfältige Symbole und Bilder zurück, durch die die abstrakten Inhalte buddhistischer Philosophie und Psychologie sinnlich und emotional erfahren werden. Dies führt zu einer Transformation des psychophysischen Gesamtgefüges.
Ende Teil III
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