Hüte dich vor deiner Intuition! – Alles, was sie will, ist ein Vanilleeis
Aah, ich sehe es schon kommen, die Hälfte meiner Leserinnen wird mir nicht zuhören; wird mir entgegnen, ihr Bauchgefühl habe sie noch nie im Stich gelassen. Die andere Hälfte wird das nicht sagen/schreiben, aber denken. Zumindest glauben, sie dächte es. Es wird aber wieder nur das Bauchgefühl sein und nicht das Denken. Aber vielleicht habe ich ja doch eine Chance, eine kleine wenigstens, und die eine oder der andere lässt sich auf diese ungewöhnliche Behauptung ein. Was hat es also auf sich mit der Intuition und ihrem Begehr nach einem Vanilleeis.
Wir nutzen unser Hirn auf zweierlei Weise. Mit dem schnellen Denken, das so schnell ist, dass wir es für Fühlen, das heißt Intuition halten. Und das langsame Denken, dass ja nicht umsonst Nachdenken heißt. Dieses langsame Denken hat die Aufgabe, den Mist, den wir mithilfe unserer Intuition bauen, in Grenzen zu halten.
Just am vergangenen Wochenende hat sich wieder eine Frau beschämt als Kopfmensch geoutet und war hoffentlich recht erleichtert, als ich sie und alle anderen darauf aufmerksam machte, dass es gut ist, ein Kopfmensch zu sein. Ja sogar lebenswichtig. Vielleicht denken einige Menschen zuviel nach und achten zuwenig auf ihre Intuition. Ja, und vielleicht stimmt es ja auch, dass es Situationen gab, in denen dich deine Intuition vor Schlimmem bewahrt hätte, wenn du nur auf sie geachtet hättest, was du aber nicht hast. Dummerweise hattest du dich entschieden, nicht auf deine innere Wahrnehmung zu hören. Das war, sorry, auch Teil deiner Intuition. Hättest du Zeit und Gelegenheit zum gründlichen Nachdenken gehabt, wärst du nicht zu dieser „wird schon nicht so schlimm werden“-Entscheidung gekommen, die dir gar nicht gut getan hatte.
Wenn wir genau hinschauen, dann bemerken wir, dass unsere Intuition uns mindestens genau so oft in die Irre geführt hat, wie sie uns nützlich war. Woran liegt das? Was ist das, was wir Intuition nennen oder Bauchgefühl, wie manche sagen.
Nun, unser Büro für Gefühlsangelegenheiten, die Amygdala im Kopf, ist daran auf jeden Fall beteiligt. Hier werden Eindrücke auf die Schnelle sortiert. Und hier liegen eben auch die Anträge für unbegrenzten Konsum von Vanilleeis. Alle schon ausgefüllt, wenn auch noch nicht genehmigt. Im Klartext: Manchmal ist dieses erste schnelle Denksystem so schnell, dass es uns zur Seite springen lässt, bevor das Dach einstürzt. Aber manchmal wird es eben auch ein Opfer seiner eigenen Vorurteile und Bequemlichkeit. Nehmen wir zum Beispiel diese einfache Denkaufgabe: Wieviel kostet ein Ball, wenn Schläger und Ball zusammen 1,10 Euro kosten und der Schläger genau einen Euro teurer ist als der Ball?
Wenn deine Antwort zehn Cent lautet, bist du gerade Opfer deiner Intuition geworden und solltest darauf achten, nicht sofort den unwiderstehlichen Drang nach einem Vanilleeis zu verspüren. Natürlich lautet die Antwort 5 Cent. Aber die Einfachheit der Aufgabe gaukelte deinem Bauchgefühl vor, es seien 10 Cent.
Schnelles Denken oder Intuition geschieht automatisch, schnell, mühelos und ohne willentliche Steuerung. Langsames Denken, Nachdenken benötigt Aufmerksamkeit und bewusste Anstrengung. Es kann sich erschöpfen, ist von Glukose-Zufuhr abhängig und hat die Aufgabe, Verhalten zu kontrollieren und das Leben zu verstehen. Schnelles Denken will es sich immer leicht machen. Es ist an das Belohnungsystem angeschlossen und hat nicht nur göttliche Eingebungen, sondern auch einen Navigator, der dich sicher in jedes erreichbare Fettnapf lenkt. Langsames Denken kann man trainieren. Selbstreflektion ist deshalb so unbeliebt, weil es Kraft kostet. Ein diesbezügliches Seminar bei mir kann dich (und mich) an den Rand völliger körperlicher Erschöpfung bringen. Wenn es gelingt, gibt es gleichzeitig große Glücksgefühle, wie sie nur bei solchen Denkprozessen und ihren Ergebnissen zu erhalten sind.
An den wesentlichen Knotenpunkten des Lebens kann es von Vorteil sein, beide Denksysteme einzusetzen. Es gibt viel persönliches Leid, wenn wir dem Ruf nach Vanilleeis bedenkenlos nachgeben. Mehr als einmal haben wir als Herzensentscheidung deklariert, was doch nur das Echo des Belohnungsystems war. Also sei froh, wenn du zu denen gehörst, die ihren Kopf benutzen.
Was macht dich so sicher? – Über die Wachheit
Wenn man so aufgewachsen ist, dass nichts selbstverständlich ist, dann sind einem Dinge selbstverständlich, die anderen niemals selbstverständlich werden. Ich meine den fremden Blick. Ich meine einen hohen Grad an Wachheit. Um es genauer zu erklären: Ich wurde in eine Welt geboren, in der das Leben und sein Regelwerk allen anderen durch Eltern und andere Erwachsene bekannt war. Wer damals jedoch Migrantin war, konnte darauf nicht rechnen und hatte andererseits auch keine eigene Community als Rückhalt, denn es gab in jenen Jahren praktisch keine Ausländer in Deutschland. Wir lebten anders als die da draußen, wir sprachen eine andere Sprache daheim, wir aßen völlig andere Speisen. Aber ich fand die da draußen immer hochinteressant. Neugierde auf das Leben, das sich vor meinen Augen abspielte, war eine große Triebfeder. Umgekehrt, war man von meiner Existenz nicht so begeistert. Das war oft schmerzvoll, aber es lehrte mich die schon erwähnte Wachheit.
Ich glaube, deshalb habe ich zu Fragen von innerer Sicherheit, äußerer Sicherheit, Wahrnehmung und Wachheit einen ungehinderteren Zugang als manch anderer Mensch, der sich erst in späteren Jahren durch persönliche Krisen infrage gestellt sah. Dieser Zugang bildet die Grundlage meiner Arbeit. Meine „Ware“ sind Klarheit, Offenheit, Selbstreflektion und Vermietung von Sprunganlagen über den Schatten. Dies alles bekommt man nur, wenn man bereit ist, eine andere Perspektive als bisher einzunehmen. Denn wer zu mir kommt, steckt auf irgendeine Weise fest und hat meist schon alles versucht, was geht. Aber nichts ging. Jedenfalls nicht wirklich. Wobei das ja wohl jede/r kennt, dass es Zeiten gibt, da geht’s nicht weiter; da will es nicht werden, da gibt es Stillstand, Leid und Not. Wie allgemein hoffentlich bekannt ist, lassen sich Probleme nie auf der Ebene lösen, auf der sie entstanden sind, weshalb allein deshalb schon ein Perspektivwechsel anzuraten ist.
Beliebtestes Bild von mir, was Wachheit angeht, ist die Prämisse: Lebe so, als befändest du dich zusammen mit einer Giftschlange in einem Zimmer. Die befreiende und sichere Lösung für dieses wesentliche Problem liegt jenseits aller intuitiv gewählten Reaktionen. Das Geschenk innerer Sicherheit offenbart sich, wenn wir wissen, dass wir erstens nichts wissen und zweitens nichts unter Kontrolle haben. Nichts.
Wie ich schon oft schrieb, befinden sich die meisten Menschen in einer Art Schlafzustand, wenn sie wach sind. Und wie immer glauben die meisten, diese Behauptung träfe gerade auf sie gewiss nicht zu. Ist bekannt. Das ist Teil dieses Komas. Ob du auch dazu neigst, findest du recht schnell heraus. Wenn dir etwas begegnet, das bisher so in deiner Welt nicht vorkam und du ohne weiter nachzudenken zu deinen gesicherten Wahrheiten greifst, bist du wahrscheinlich in solch einem Schlafzustand. Und das nicht erst seit gestern.
Die meisten sehen es eher anders herum als ich. Sie glauben, dass dieses schnelle Wissen, diese Entscheidungen jenseits längeren Nachdenkens, diese Gewissheiten, welche sich wie Eingebungen anfühlen, die Intuition, dass dieses alles das ist, worauf sie sich verlassen können. Das ihnen Sicherheit gibt. Manchmal ist das sogar so. Aber genau so oft nicht. Was macht dich sicher? Ich meine, was genau macht dich sicher?
Welche anderen Perspektiven als die deine kennst du eigentlich? Kannst du deine eigene Perspektive mal für eine Weile verlassen und eine andere einnehmen? Versuche doch einmal dein eigenes Leben mit den Augen einer Fremden, die dich nicht kennt, zu sehen. Um herauszufinden, ob in deinem Leben das Zusammenspiel von Intuition und Selbstreflektion funktioniert, musst du in die Selbstreflektion gehen. Wenn du wissen willst, ob deine Intuition dich die richtige Entscheidung treffen lässt oder dich doch auf eine vereiste Brücke führt, musst du nachdenken. Dass wir dies nicht leicht und sicher immer tun liegt daran, dass es anstrengend ist. Man muss es trainieren. Das ist die schlechte Nachricht. Man kann es trainieren. Das ist die gute Nachricht. Gestern entgegnete mir eine Leserin auf meine These, der Intuition die Entscheidungen nicht unkontrolliert von der Selbstreflektion zu überlassen, dass dann ja alle ihre Therpeutinnen unrecht gehabt hätten, die ihr gesagt hätten, sie solle auf ihre Intuition achten. Das ist interessant. Denn, wer zu einer Therapeutin/Therapeuten geht, wählt den Weg der Selbstreflektion; entscheidet sich ganz bewusst für das klare, langsame und gründliche Nachdenken. Und was kann es dann bedeuten, wenn dieses Nachdenken mithilfe einer oder mehrerer TherapeutInnen dazu führt, der Intuition mehr zu vertrauen? Mach es dir nicht zu leicht.
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