Sonnenjunge und Mondmädchen kommen in die Welt
Viele Male kam die „Nacht der Sterne“ und die Geschöpfe der Welt hatten sich daran gewöhnt, da geschah auf einmal etwas völlig Neues. Drei Nächte lang war Mutter Mond verschwunden und Bruder Wind fand in dieser Zeit keinen Schlaf und keine Ruhe, denn ständig musste er allen versichern, dass sie bestimmt zurückkommen würde.
Als Mutter Mond sich in der nächsten Nacht wieder zeigte, war sie viel, viel rundlicher als zuvor und sie strahlte so schön wie noch nie. Bruder Wind, der neugierige Geselle, hielt es nicht aus.
„Mutter Mond, Mutter Mond, was ist denn mit dir geschehen? So sag mir doch, was los ist!“ Mutter Mond aber lächelte geheimnisvoll. „Warte bis zur Morgendämmerung!“ sagte sie.
Als Vater Sonne sich am Himmel erhob, da erwachten auf der Welt zwei Geschöpfe, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Im ersten Augenblick flohen die Tiere in heller Panik, aber als die beiden Wesen einfach still saßen und mit grossen Augen die Wunder der Welt bestaunten, da wagten sie sich wieder hervor.
Hase, Sturmvogel und Pfeilfisch wurden ausgeschickt, um Bruder Wind zu suchen. Er, der Klügste von allen, wusste bestimmt, was zu tun war.
Schnell kam Bruder Wind herbeigebraust und so ungestüm war er, dass die Haare der beiden Wesen wild flogen und das Kleinere, ein Mädchen, sich an das Größere, einen Jungen, klammerte, um nicht fortgeweht zu werden. Doch sie fürchtete sich nicht, silberhell klang ihr Lachen. „Wer bist denn du?“ rief sie. „Willst du uns zurückblasen in den Himmelswagen?“ fragte der Junge und hielt sich an Weidenbaum fest.
„Ich bin Bruder Wind und wer seid ihr?“
„Sonnenjunge und Mondmädchen! Und wir freuen uns, dich zu sehen, denn Mutter Mond hat uns gesagt, dass du viel über die Welt weißt. Du wirst uns doch alles zeigen und unser Freund sein?“
Bruder Wind lächelte geschmeichelt und stolz. „Selbstverständlich!“ pfiff er laut und rüttelte in seiner wilden Freude so sehr an Weidenbaum, dass diese beleidigt knarrte. Vater Sonne aber lächelte glücklich herab und an diesem Abend schuf er ein ganz besonderes Geschenk. In den glühendsten Farben malte er die Wolken an und ließ das Meer golden aufleuchten. Seine Geschöpfe freuten sich so sehr an diesem wunderbaren Anblick, dass er beschloss, in Zukunft immer einen letzten Gruß über der Welt leuchten zu lassen.
Kristallkind erwacht
Während Mondmädchen und Sonnenjunge mit Bruder Wind durch die Welt liefen, erwachte in einer Höhle tief drinnen unter den Wurzeln der höchsten Berge ein weiteres Geschöpf. Dunkelrot wie Granat war sein Haar. Grün wie Smaragd waren seine Augen und rot wie Rubin seine Lippen. Die Haut war so zart und durchsichtig wie Alabaster. Kristallkind, die Tochter der Steine, war geboren. Wie das Strahlen von Vater Sonne und Mutter Mond den Sonnenjungen und das Mondmädchen hervorgebracht hatte, so hatte das Leuchten der Edelsteine Kristallkind gezeugt. Doch weil auch die Edelsteine nur Kinder der Schöpfung sind, vermögen sie nicht, neues Leben zu schenken und so hatte Kristallkind keine Seele und ihr Herz war ein riesengrosser Diamant. Irgendetwas fehlte ihr und es hielt sie nicht in der Höhle, in welcher sie erwacht war. Unruhig streifte sie durch die geheimnisvollen Kammern der Berge, sprach mit den seltsamen Geschöpfen, welche dort wohnen. Immer näher kam sie auf ihren Wanderungen einem Ausgang aus dem Berg, wo die Wellen des Meeres die letzte trennende Felsschicht zur Außenwelt durchbrochen hatten. Viele Male stand sie davor, aber das gleißende Licht von Vater Sonne entsetzte sie zu sehr.
Doch eines Nachts, da nur Mutter Mond hoch am Himmel stand, wagte sie es, den schützenden Berg zu verlassen. Furchtsam stand sie am Strand und blickte zu dem grossen weißen Licht am Himmel empor. Als Mutter Mond sie sah, erschrak sie. Sie hatte geglaubt, alle ihre Geschöpfe zu kennen, aber dieses Wesen war ihr fremd.
Laut rief sie nach Bruder Wind und dieser kam folgsam herbeigeeilt. Er sah das fremde Geschöpf und wurde schnell zu einem zarten Lüftchen, um es nicht zu verängstigen.
„Ich bin Bruder Wind und wer bist du?“
„Kristallkind heiße ich, in einer Höhle tief im Berg bin ich erwacht. Ich suche nach etwas.“
„Wonach denn? Ich weiß viel über die Welt, das hat Mutter Mond da oben selbst gesagt! Vielleicht kann ich dir helfen.“
„Ich weiß nicht, wonach ich suche. Ich weiß nur, dass ich es finden muss, weil ich sonst nicht leben kann.“
Bruder Wind erschrak. Hilfesuchend sah er zu Mutter Mond auf, doch sie hatte sich hinter den Wolken verborgen .....
„Komm erst einmal mit mir, ich bringe dich zu meinen Freunden Sonnenjunge und Mondmädchen. Von allen Geschöpfen der Welt sind die beiden dir am ähnlichsten. Vielleicht wissen sie, was du suchst.“
Sonnenjunge geht fort
Als Mondmädchen und Sonnenjunge am nächsten Morgen erwachten, da saß ein fremdes Mädchen mit Bruder Wind unter dem Weidenbaum. Vater Sonne sandte gerade seine ersten Strahlen über die Welt und Sonnenjunge schien es, als hätte er nie ein schöneres Wesen gesehen als diese Fremde. Geschwind stand er auf, ging zu ihr und hielt ihr seine Hand hin. Kristallkind sah ihm in die Augen, erhob sich aus dem Gras, nahm seine Hand und sprach: „Ich glaube, jetzt weiß ich, wonach ich gesucht habe.“ Hand in Hand gingen die beiden davon, ohne ein Wort für die arme Mondmädchen. Bruder Wind rief ihnen nach und wollte sie aufhalten, doch die beiden hörten ihn scheinbar nicht.
Den ganzen Tag warteten Bruder Wind und Mondmädchen, dass die beiden zurückkämen. Mondmädchen weinte stumm und Bruder Wind machte sich bittere Vorwürfe. Er eilte zu Vater Sonne und fragte ihn, was Sonnenjunges Verhalten denn bloß bedeuten sollte. Doch Vater Sonne gab keine Antwort und verbarg sich hinter den Wolken, wie Mutter Mond zuvor.
Als Bruder Wind zur alten Weide zurückkehrte, da war auch Mondmädchen verschwunden. Weide wusste nicht, wohin sie gegangen war. „Ich bin nur ein wenig eingenickt und auf einmal war sie weg“, sagte der Baum. „Frag doch Gras!“ Doch Gras rauschte nur und wollte keine Antwort geben. Bruder Wind zauste und schüttelte es eine Weile, aber dann hatte er genug. „Sollen sie doch sehen, wie sie alle ohne mich zurechtkommen!“ rief er empört. „Ich gehe mit den Wellen spielen, die benehmen sich wenigstens noch vernünftig!“
Als Vater Sonne an diesem Abend zur Ruhe ging, da gab es keinen bunten Himmel als Abschiedsgruß. Und Mutter Mond zeigte sich erst gar nicht. Die Geschöpfe der Welt flüsterten aufgeregt miteinander und Bruder Wind, der sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte, begann sich zu wundern. Nur Gras war auffallend still.
Sonnenjunge und Kristallkind aber waren weit gewandert. Sonnenjunge hatte gar nicht gemerkt, wie schnell der Tag vergangen war. Müde ließ er sich in einem kleinen Bergtal nieder, um zu rasten, doch Kristallkind wollte noch weitergehen. „Ich möchte dir den Ort zeigen, von dem ich gekommen bin“, sagte sie. „Dort können wir schlafen.“ Da stand Sonnenjunge noch einmal von seinem Ruhefelsen auf und folgte Kristallkind in den Berg.
Unruhig lief Bruder Wind auf und ab und zählte die Stunden bis zur Dämmerung. Aber die Dämmerung wollte nicht kommen. Da machte er sich auf den Weg zum Himmelswagen, doch der war verschlossen. Und so sehr er auch rief und rüttelte und schüttelte, niemand antwortete ihm, nur die Sterne leuchteten kalt herab, so kalt wie Kristallkinds Augen.
Ende Teil II
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