Es stand nicht immer in unserer Macht, das mussten wir bald darauf
akzeptieren lernen.
Es geschah in der Letzten Oktoberwoche, während die Apfelernte
voll im Gange war. Mittlerweile waren noch vier junge Leute eingetroffen.
Sie hatten, da sie sich in der ersten Phase der Therapie befanden,
noch keinerlei Ausgang und durften auch noch keine Besuche empfangen.
So konnte man annähernd sicher sein, dass keine unerwünschten
Kontakte zur "Szene" stattfänden.
Die Drei aber,
die Pioniere der ersten Stunde sozusagen, durften, im Schutz der
Gruppe - zur gegenseitigen Kontrolle, die ersten
Ausgänge in eine nahe Stadt machen. Dazu muss gesagt werden,
dass die Teilnahme an Entzug und Therapie freiwillig war. Jeder
konnte jederzeit damit aufhören. Die Tore standen offen. Keine
Therapie gelingt je unter Zwang. Die Drei waren morgens um neun
Uhr in den Bus gestiegen. Um ein Uhr Mittag kam der Anruf. Eine
aufgeregte Mädchenstimme schrie
ins Telefon: "Der Bernhard, der Bernhard, er ist weg! Wir
haben ihn verloren!" Myriam, die gerade Dienst hatte, sprach
beruhigend auf das Mädchen ein: "Elvira, jetzt beruhig'
dich einmal. Wie lange ist er denn schon verschwunden?" Es
stellte sich heraus, dass Bernhard bald nach ihrer Ankunft an der
Endstation, die am Bahnhof lag, kurz einmal aufs Klo hatte
müssen, wie er gesagt hatte. Die Anderen hatten einstweilen
an einem Kiosk auf ihn gewartet. Er war nicht wieder gekommen.
Er kam nie wieder.
Spät abends wurde er von einem Bediensteten des Parkhauses
in einer Toilette gefunden, gestorben an einer Überdosis des
Stoffes, aus dem seine Träume gewesen waren. Nun träumte
er einen anderen Traum, einen, der ihn wegführte von Drangsal
und Irrungen, hin zu seinem Selbst, zu seinem unzerstörbaren
Kern.
Auf dem Hof breitete sich entsetztes Schweigen aus. Die verschreckten
Jugendlichen waren von Georg aus der Stadt abgeholt worden. Sie
waren noch blasser als sonst, und ihre furchtsamen Augen schienen
zu fragen: "Nicht wahr, es gibt keine Rettung, es holt uns
ein, wo wir auch hingehen?" Die Therapeuten machten sich Vorwürfe,
wussten aber eigentlich nicht, was sie anders hätten machen
können. Ich machte mir große Sorgen um Myriam und das
Baby. Sie brauchten jetzt unbedingt Ruhe und Entspannung. Doch
die gab es nicht, nicht jetzt. Die Medien pflegten sich auf solche
Begebenheiten wie Aasgeier auf ein Stück verrottetes Fleisch
zu stürzen. Bald würde der Tod des Jungen überall
Hauptgesprächsstoff sein, besonders hier, in diesem abgeschiedenen
Teil unseres Landes, wo sonst nicht viel passierte. Meine Gedanken
kreisten und kamen auch nachts nicht zur Ruhe. Was konnten wir
in dieser drangvollen Situation nur machen?
Eine Stimme, lang vertraut,
doch zuletzt wenig gehört, ließ sich leise zuerst, in
meinem Kopf vernehmen: "Schöne Scheiße!" begann
sie, wenig vornehm, aber treffend. "Euer Superprojekt wird
zu Ende sein, bevor es noch richtig begonnen hat, die werden euch
Kübel voller Scheiße über den Kopf schütten!" Madame
beliebte heute im Fäkalchargon zu kommunizieren, das konnte
ja heiter werden. Aber diesmal, im sicheren Wissen, die Chefin
im Haus zu sein, würde ich ihr zuhören, solang es mir
richtig schien. "Jetzt gib' mal was Konstruktives von dir,
du Waschweib," forderte ich sie auf. "Das ist nicht mein
Revier, das Konstruktive, aber bevor du mich wieder in den Sack
steckst,... also:
"
Warum geht ihr nicht in die Offensive, nehmt ihnen doch den Wind
aus den Segeln!" "Du hast leicht reden, in die Offensive
gehen. Wie soll denn das funktionieren?" "He, willst'
die Chefin sein, dann lass dir selber was einfallen," maulte
sie. "He, du bist Untermieterin in meinem Haus, vergiss
das nicht, also kooperiere, oder du fliegst raus!" Anscheinend
durfte man mit ihr nicht zu zimperlich umgehen, sonst fühlte
sie sich gleich wieder stark. "Ich glaube, ich muss dir
wirklich auf die Sprünge helfen. Vor lauter Schrecken kannst
du anscheinend nicht mehr richtig denken. Warum ladet ihr nicht
alle wichtigen Leute ein, vielleicht zu einen Tag der offenen
Tür oder so was in der Art." "Ja, das ist es,
du bist super, ich möchte dich umarmen!" Dieses total
ungewohnte Verhalten verschreckte sie wohl, denn so plötzlich,
wie sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Ich schickte
ihr ein aufrichtiges Dankeschön hinterher.
Fast alle, die wir eingeladen hatten waren gekommen: Ein Reporter
der Bezirkszeitung, einer eines bekannten Boulevardblattes, der
Bürgermeister, der Postenkommandant der Gendarmerie, der Ortsvorstand,
der Pfarrer; nur die Ortsbewohner waren bis auf wenige Ausnahmen
ferngeblieben. Anscheinend hatten wir einen großen Fehler
gemacht, indem wir ihnen die Wahrheit über unser Projekt verschwiegen
hatten.
Nun würde es sehr schwer, wenn nicht unmöglich werden,
die Mauer aus Angst und Abwehr zu durchbrechen, die sie gegen uns
aufgebaut hatten. Vielleicht aber wäre es möglich, einen
kleinen Durchschlupf hineinzubrechen? Also fasste ich mir ein Herz
und ging mit einem der Mädchen von Tür zu Tür. Ein
wahrer Canossagang, doch er lohnte sich. Wir baten alle, die wir
antrafen, doch noch zu kommen und sich selbst ein Bild zu machen,
bevor sie ein Urteil fällten. Manche entschuldigten sich,
doch es war offensichtlich, dass sie kniffen. Manche aber kamen.
Sie waren letzten Endes dann auch verantwortlich dafür, dass
sich die Waage der öffentlichen Meinung leicht zu unseren
Gunsten neigte.
Die Jugendlichen hatten sich wirklich große Mühe gegeben.
Ein schmackhaftes Buffet war in der Mitte des großen Raumes
aufgebaut, allerdings gab es keinen Alkohol und auch keinen Kaffee,
was gleich zu Beginn Interesse erweckte. Ein Therapeut hielt eine
kleine Ansprache und erklärte genau den Zweck dieser Einrichtung
und den Ablauf der Therapie. Er stellte die Klienten vor und ließ die
Anwesenden ein wenig Einblick nehmen in deren Vorgeschichte (mit
der Zustimmung der Betreffenden natürlich). Die Besucher waren
sehr betroffen von dieser, ihm total fremden Welt, aber Betroffenheit
ist die Voraussetzung für ein Umdenken, diesen Keim hatten
wir bewusst gelegt. Anschließend wurden die Gäste noch
auf dem Gelände umhergeführt. Dabei zeigten die Klienten
mit echtem Stolz, was sie bisher geleistet hatten: Den Umbau der
Räume, ihre gemütlichen Schlafkojen, die Mostpresse,
den Stall, die neue Melkanlage und die eben begonnene Milch - und
Käsekammer. Zuletzt wurden noch die Gemälde und bildhauerischen
Arbeiten vorgeführt, welche die jungen Leute im Zuge ihrer
Therapie gestaltet hatten.
Und das war nun auch für mich eine verblüffende Überraschung.
Es war, als hätte das Öffnen der verborgenen Räume
ihres Gemütes eine Schleuse geöffnet, hinter der auch
das schöpferische Potential dieser Menschen lange gewartet
hatte, um endlich mit Gewalt hervorzubrechen. Was ich und unsere
Gäste hier zu sehen bekamen, schien mir, trotz der oft schmerzlichen
Inhalte, das Schönste zu sein, was ich bisher auf diesem Gebiet
gesehen hatte. Es sprach so unmittelbar von Seele zu Seele, so
ergreifend unverhüllt, dass keiner sich der Wirkung ganz entziehen
konnte. Auch die einfachsten Leute, denen die Beschäftigung
mit Kunst fremd war, wurden davon angerührt. Zuletzt gaben
diese kreativen Arbeiten der Waage den entscheidenden letzten Schubs,
und die Veranstaltung wurde zu einem ersten Erfolg. Die Herzen
hatten sich einen Spalt geöffnet, und dieser konnte erweitert
werden, das wussten wir.
Diese, schnell notwendig gewordenen Aktivitäten hatten etwas
Wichtiges verhindert, nämlich das Bewältigen unserer
eigenen Trauer und Verstörtheit. Die Therapeuten würden
das Ihrige dazu in den Gruppensitzungen tun, dazu waren sie bestens
ausgebildet und besaßen auch genug Erfahrung. Mein Beitrag
dazu war ein anderer. Ich bat alle Bewohner des Hofes, am Abend
des nächsten Tages zu uns ins Haus zu kommen und etwas aus
dem persönlichen Besitz von Bernhard mitzunehmen. Georg und
ich führten alle in die Höhle, die von einigen wenigen
Kerzen dämmrig erleuchtet war. Wir stellten uns im Kreis auf,
und ich hielt eine kurze Ansprache: "Diese Höhle ist
ein Ort, auf dem seit Tausenden von Jahren Menschen ihre Anliegen,
ihre Ängste, ihre Freuden aber auch ihre Trauer abladen konnten.
Sie legten diese Gefühle ihrer Muttergöttin ans Herz,
die sie sich so vorstellten, wie ihr sie hier seht. Außerdem
ist an diesem Ort der Vorhang zwischen der Welt der Lebenden und
der Welt der Toten dünn. Hier können wir unserem verstorbenen
Freund alles sagen, was wir gerne wollen, er wird uns hören.
Vor allem aber können wir uns hier und jetzt von ihm verabschieden,
ich meine, wirklich verabschieden, denn er hat einen anderen Weg
gewählt als wir. Auch, wenn wir in unserem Entsetzen das momentan
nicht glauben können: Er ist an einem sicheren Ort und wird
seine Probleme bewältigen, auf seine Weise. Wir aber haben
uns entschieden, hier zu bleiben, zu leben, an uns zu arbeiten
und uns gegenseitig dabei zu unterstützen. Lassen wir unseren
Freund also los, binden wir nicht unsere und seine Kräfte,
denn zuletzt gibt es den Tod nicht, nur Leben, wenn sich das auch
momentan noch unserer Wahrnehmung entzieht."
Jeder bekam nun eine Schnur um sein Handgelenk gebunden, deren
Ende im Zentrum unseres Kreises um einen Teddybären, Bernhards
vielgeliebtes Maskottchen, geknüpft wurde. Wer wollte, sagte
jetzt noch ein paar Abschiedsworte, laut oder für sich und
verweilte in Gedanken bei dem Verstorbenen. Myriam sang dazu gedämpft
ein anrührendes Lied, es war ein Schlaflied, das Lied einer
Mutter für ihr verängstigtes Kind:
Mutter, jag die Schatten fort,
sie tanzen an den Wänden dort!
Still, mein Kind, fürcht dich nicht!
Schatten flieh'n das Licht.
Sie können dir nichts tun,
du kannst ganz sicher ruh'n.
Still, mein Kind, fürcht' dich nicht,
Schatten flieh'n das Licht.
Langsam löste sich die Starre des Entsetzens, und endlich
flossen die erlösenden Tränen. Sie schwemmten Angst und
Verzweiflung mit sich fort und waren gleichzeitig das befruchtende
Nass, welches die zarten Pflanzen Hoffnung und Vertrauen so nötig
für ihr Wachstum brauchten.
Als das Schluchzen verebbt war,
schnitt nun jeder die Schnur an seinem Handgelenk durch. Anschließend
wurde der Bär
vergraben. Noch einmal flossen Tränen, doch sie waren jetzt
anders, sanft wie Sommerregen. Wir fassten uns alle an den Händen
und Myriam sang ein Lied, dessen Worte sich immer wiederholten.
Langsam fiel Einer nach dem Anderen in den Gesang ein, und zuletzt
war die Höhle erfüllt davon. Es war ein Lied an das
Leben:
" We all come
from the godess, and to her we shall return, like a drop of rain,
flowing to the
ocean..." (Wir alle kommen von der Göttin, und
zu ihr kehren wir wieder zurück, wie ein Regentropfen, der
wieder dem Ozean zufließt.)
Als alle wieder gegangen waren,
fiel mein Blick auf den Kalender, der über der Küchenanrichte hing. Heute war genau der
30. November, SAMHAIN! Die Aufregungen der letzten Woche hatten
mich diesen wichtigsten Termin im Jahreskreis vergessen lassen.
Das Totenfest! Genau heute vor einem Jahr hatte meine Reise in
ein neues Leben begonnen. Es war ein Aufbruch gewesen, der das
Schiff meines Lebens aus dem vertrauten Hafen in unbekannte Gewässer
geführt hatte. Und auch, wenn dieses Jahr mit einem Totenfest
endete, so war es doch eine Reise auf den Wassern des Lebens gewesen.
Denn das Leben entspringt dem Tod und endet dort, um wieder von
Neuem zu beginnen. So war es, so ist es, und so wird es sein, blessed
be!
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