25. Juli 1989
Es ist nun meine Aufgabe, den Coven zu
versammeln und die Einwilligung der Gräfin zu erhalten. Das
Erste war nicht schwierig, denn Lughnasadh, das Schnitterfest steht
kurz bevor. Also machte ich
mich heute Nachmittag auf den Weg zu Margot, in die Buchhandlung.
Vertraute Düfte und Klänge umwehten mich, als ich eintrat
und erinnerten mich an die Ereignisse, die Jahrhunderte her zu
sein scheinen und mir doch erst vor wenigen Monaten zugestoßen
sind. Unglaublich! Margot bediente gerade eine Kundin, die sich
ganz intensiv für die Heilkräfte der Edelsteine interessierte.
Sie mochte einfach nicht glauben, dass ohne Selbstklärung
ihrerseits kein Stein ihr je bei der Lösung eines Problems
helfen würde. Eindringlich versuchte Margot ihr zu erklären: "Die
Steine wirken nicht wie ein Kopfschmerzpulver. Sie sind ein Hilfsmittel,
nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es bleibt Ihnen nicht erspart,
an ihren Schwierigkeiten zu arbeiten." Wie leicht hätte
Margot ihr diverse Steine verkaufen können und damit ihre
Einnahmen mehren, doch das macht eben den Unterschied zwischen
Scharlatanerie und wirklicher Beratung aus, das ist eben "meine" Margot.
Sie wird mir sehr fehlen, das weiß ich. Werde ich jemals
eine Hohepriesterin mit i h r e m Format werden, i h r e Selbstsicherheit
ausstrahlen, wie s i e die Göttin herabziehen? Diese Fragen
wirkten wohl wie eine ausgeworfene Angel auf meine kritische,
innere Stimme. Sie biss sofort in den Köder. Hier war sie
wieder und ließ laut und deutlich ihre Meinung in mir vernehmen: "Na,
weißt du, du bist aber schon ein Tschapperl (ist wienerisch
und bedeutet etwa: Etwas unterbelichtet, naiv), du zukünftige
Hohepriesterin du!" ätzte sie mit gewohnter Schärfe, "wieso
willst du alles so können wie sie? Das wirst du nie, niemals,
nein, du nicht. Du hast nicht ihr Format, und du wirst es auch
n i e haben, nicht in hundert Jahren!" Schon wollte ich
ihr den Sieg leicht machen und ihr bedrückt Recht geben,
doch plötzlich hielt ich ein: Ja, sie war wohl bissig wie
eh und je, aber ihre Argumente waren dünn wie schlechter
Stoff, einfach lächerlich! Jetzt hatte sie sich eine Blöße
gegeben! Und ich musste wirklich lachen. Laut lachend stand ich
im Geschäft, lachte aus reiner Freude über meine bevorstehende
endgültige Befreiung von dieser Sklavenhalterin, die mich
so lange unter ihrer Knute gehalten hatte.
Nun musste ich nicht mehr kämpfen gegen sie, sie schrumpfte
zu ihrer wahren Größe zusammen und das war recht klein,
sie passte in meine Handfläche. Dort saß sie nun kläglich
und hörte sich meine Verurteilungsrede an: "Jetzt hör'
mir einmal zu, du kleines Würstchen, du bist durchschaut.
Deine Macht ist Schnee von gestern! Willst mir einreden, ich
könne nie so sein wie Margot! Nun, du hast Recht. Ich kann
nicht sein wie sie, denn ich bin Anna, und ich will Anna sein
mit allen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die diese
Anna hat, und die sind recht beachtlich! Also, was hast du dazu
zu sagen?" Sie sagte nichts.
Ich kann sie doch glatt jetzt in meine Tasche stecken und brauche
sie nur hervorzuholen, wenn ich will. Ich bin ihre Herrin geworden
und das gedenke ich zu bleiben.
Die Kundin sah recht befremdet zu mir her und blickte dann fragend
Margot an. Es kommt wohl nicht oft vor, dass Leute laut lachend
in Geschäften stehen. Margot kam zu mir her, umarmte und
begrüßte mich in alter Vertrautheit. Die Kundin war
nun vollends verstört und verließ eilig die Buchhandlung,
ohne etwas gekauft zu haben. "So, du Kundenschreck, jetzt
sag mir, warum du so gelacht hast," fragte sie mich mit
gespieltem Ernst. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, wurde
aus dem gespielten Ernst ein echter. "Ich gratuliere dir," sagte
sie mit viel Wärme in der Stimme, "aber wirf sie nicht
ganz weg, du wirst sie noch brauchen, halte sie nur an der kurzen
Leine, sie wird dir dienen." "Margot, ich bin aus einem
ganz bestimmten Grund da," sagte ich ernst und eindringlich, "ich
brauche deine Hilfe und die des Covens!" Und nun erzählte
ich in aller Ausführlichkeit, was sich seit der Sonnenwende
zugetragen hatte.
"Das ist sehr merkwürdig," sagte sie versonnen,
als ich meine Erzählung beendet hatte. "Wenn du es nicht
wärst, Anna, ich glaube nicht, dass ich jemand Anderem diese
Geschichte glauben würde, aber so..." Sie begann aber
sofort, alle Mitglieder anzurufen; alle waren erreichbar, was
noch nie vorgekommen ist, wie sie sagte. Und alle waren sofort
einverstanden damit, das Lughnasadh - Fest im Waldviertel zu
feiern und anschließend bei den Ausgrabungsarbeiten zu
helfen. Tiefe Dankbarkeit erfüllte mich, ich fühlte
mich getragen von Liebe und Zugehörigkeit. "Margot,
ich muss dir noch etwas sagen," meine Stimme zitterte vor
Aufregung. "Ich bin ganz sicher, dass dies meine große
Prüfung sein wird. Wird der Coven mich unterstützen
und mir seine Energie leihen?" Sie sah mich lange und prüfend
an, und ihr Blick sah durch meine Anna - Persönlichkeit
hindurch bis zu meinem unzerstörbaren Kern.
Ich habe mich nie nackter gefühlt, außer damals, bei
meiner Initiation, doch ich hielt ihrem Blick stand, denn ich
war mir meiner selbst bewusst; die Persönlichkeiten waren
zur Deckung gelangt, Anna und Morgan waren Eins geworden und
so würde es bleiben. Endlich war Margot zu ihrem Urteil
gekommen, sie sagte mit einer Gewissheit, die alle anderen Möglichkeiten
ausschloss: "Ich werde dich unterstützen, und die Brüder
und Schwestern werden das auch tun, so sei es!"
5. August 1989
Lugnasadh
Vorige Woche, an einem Samstag, trafen alle sich bei Georg
und mir, um die Einzelheiten des Unternehmens zu besprechen und
anschließend
gleich aufzubrechen. Unsere kleine Wohnung quoll über von
lebhaft durcheinander sprechenden Menschen, die noch dazu keinerlei
Sitzgelegenheit hatten, weil alles mit Büchern und Papier
vollgeräumt war. So schrieen einander, auf verschiedene, noch
freigebliebene Plätzchen verteilte Personen, über Papierstöße
hinweg, ihre Konversation zu; ein heilloses Durcheinander! Doch
zuletzt waren alle Probleme geklärt, es konnte losgehen. Es
war einer dieser typischen Spätsommertage, in welchen der
zu Ende gehende Sommer noch einmal sein ganzes Wesen verströmt,
wie um in der darauf folgenden dunklen und kalten Jahreszeit eine
Erinnerung an seine Wärme zurückzulassen. Wir werden
ihrer bedürfen. Die Winter sind kalt und dauern lange im Waldviertel.
Wir waren verteilt auf zwei Autos, ich saß im Fond des
einen - neben Beate. Das hatte sich nicht ganz zufällig
ergeben, ich hatte noch etwas zu bereinigen; es war wichtig für
mich, unbelastet in diese Prüfung zu gehen. Als sich der
erste Trubel der Abreise etwas gelegt hatte und die beiden Autos
auf dem gleichförmig sich hinziehenden Band der Nordautobahn
dahinrollten, sprach ich meine Sitznachbarin kurzerhand auf unseren
Zwist hin an.
Unsere Mitreisenden: Franz, der Fahrer; Margot, vorne neben ihm
sitzend und Georg, der neben mir saß, waren mittlerweile
in eine angeregte Unterhaltung vertieft und deshalb genügend
abgelenkt. Dies war unsere ureigenste Angelegenheit, niemand musste
mithören. "Beate," begann ich, noch etwas schüchtern," wirst
auch du mir deine Kraft leihen, wirst du mich unterstützen? "Sie
sah mich an, und es war ihrem Blick anzumerken, dass auch sie etwas
verlegen war. Dann aber gab sie sich offenbar einen innerlichen
Ruck. Sie nahm meine Hand in die ihre, drückte sie fest und
herzlich, dann sprach sie, leise, doch bestimmt: "Mir ist
klar geworden, dass ich dich falsch eingeschätzt habe. Daran
war sicher meine Eifersucht schuld. Wenn du kannst, bitte, verzeih
mir. Meine Unterstützung hast du jedenfalls, voll und ganz." "Schade," dachte
ich bedauernd, "wir hätten wirklich gute Freundinnen
sein können, hätte diese fatale Geschichte nicht zwischen
uns gestanden." Aber, so ist es nun einmal, jetzt werden sich
unsere Wege bald, zumindest für einige Zeit, trennen, und
diese Möglichkeit ist dahin. Aber wenigsten steht keine Feindschaft
mehr zwischen uns, und das ist schon ein erleichterndes Gefühl.
Langsam begann es zu dämmern auf meiner Wiese. Die Abende
brechen nun schon früher an als im Hochsommer, doch es war
angenehm warm, sogar in dieser kühlen Gegend. Wir hatten
einen Kreis aus Steinen, die es hier in Fülle gab, errichtet,
dessen Zentrum sich ziemlich genau über dem Brunnenschacht
befinden musste, wenn ich mich nicht total verschätzt hatte.
Dort entzündeten wir ein großes Feuer. Die Nacht würden
wir in unserem Haus, in Schlafsäcken verbringen. Das stand,
bis auf den großen Tisch und den Ofen, noch leer. Den Altar,
im Norden, improvisierten wir aus Steinen und einem darüber
liegenden Brett. Die vier Himmelsrichtungen waren durch Fackeln
bezeichnet.
Allmählich wurden die Schatten der Apfelbäume immer
länger, dann senkte sich die Nacht, begleitet von Grillengezirpe
und den vereinzelten Rufen eines Käuzchens, herab. War ich
bis jetzt ängstlich und nervös gewesen, so sehr, dass
ich nicht einen Bissen des herrlichen Mittagessens, das wir in
einem Landgasthof eingenommen hatten, hinunterwürgen hatte
können; jetzt fielen mit einem Mal alle Ängste von
mir ab. Ich war Morgan von Avalon, und ich stand hier, inmitten
meines, von mir wiedergefundenen Reiches. Alles war gut und richtig
so wie es war, und was hier ablief, stand unter dem Segen der
Mächtigen und geschah mit Ihrem Willen.
So wie in der Beltane - Nacht, als ich in vollem Einklang mit
allen Ebenen und Welten meine Aufgabe in diesem Leben erfüllt
hatte, gehörte dies zu meinem Auftrag. Und so, in völliger
Ruhe und Sicherheit, nahm ich den Kelch von Margot entgegen,
zum Zeichen, dass ich heute die Aufgabe der Hohepriesterin erfüllen
würde.
Das Ritual begann. Beate zog den Kreis, der uns mit allen Realitäten
und Zeiten verbinden sollte. Er sollte das Gefäß sein,
in welches die Macht der Götter einfließen konnte.
Jetzt war die Reihe an mir, die Elemente anzurufen. Im Osten
beginnend, mit den Wächtern des Elementes Luft, rief ich
alle Wesen, alle vier Winde, alle Wächter der Himmelsrichtungen
in den Kreis. Der Coven untermalte die Anrufungen mit einer machtvollen,
gesungenen Formel: "Oh you powers, powers all, answer unto
this my call! Powers of water, powers of fire, work you under
my desire! Powers of earth und powers of air, answer unto this
my prayer!" Alle konnten es fühlen, die Angerufenen
kamen. Sie waren da und liehen unserer Zeremonie die ihnen eigenen
Kräfte. Georg, mein Hohepriester, stellte sich mir gegenüber
auf und begann mit dem, nun schon bekannten Ritus der Ehrung
der Frau, die das Gefäß der Göttin sein würde.
Jetzt und jedes Mal, an dem mir diese besondere Ehrung zuteil
wurde, lief ein Schauer aus Ergriffenheit über meinen Körper.
Zitternd empfing ich den Fünffachen Kuss meines Mannes und
Hohepriesters, für den ich Frau und Göttin war.
Nun war es an mir, in ihm den Mann zu ehren, der die Kräfte
des Gehörnten in sich versammeln würde. Ich kniete
vor ihm nieder, so wie er es zuerst vor mir getan hatte und schenkte
ihm dieselbe Ehrung, ihm, der mir Ehemann und Verkörperung
des Gottes war.
Jetzt wartete die schwerste Aufgabe auf mich. Nun würde
sich zeigen, ob ich würdig war, Hohepriesterin zu sein.
Ich sollte die Göttin anrufen, mein Wesen sollte dem Ihren
Platz machen, Gefäß Ihrer Macht werden, Ihren Willen,
Ihre Botschaft, Ihre Liebe dem Coven vermitteln. Ich machte mich
ganz leer, ließ alle Ängste, alle Gedanken los und
begann mit meiner Anrufung, das Gesicht dem Altar, das Herz der
Göttin zugewandt. Es war eine überlieferte Formel,
schon viele vor mir hatten diese Worte den Weg sein lassen, der
Sie zu uns geleitete, und viele nach mir würden das Gleiche
tun, die Brüder und Schwestern des Coven würden mir
dazu ihre Energien leihen. Ich war ein Glied in einer langen
Kette. Das verlieh mir innere Ruhe und Vertrauen. Meine Stimme,
unsicher zuerst, doch von Strophe zu Strophe sicherer werdend,
hallte zuletzt bis an die Grenzen der erfahrbaren Welt, dann
darüber hinaus, folgte meiner Sehnsucht, Sie zu erreichen,
flehte, beschwor, wurde zum Strahl, dem Sie folgend, mich erfüllen
konnte. Und sie kam.....
Aber dieses Erlebnis entzieht sich meinen Worten. Ich weiß nur
noch, dass der Kreis sich ins Unendliche erweiterte. Wie konzentrische
Wellenkreise breitete sich Ring um Ring aus ungezählten
Menschen um das Zentrum aus, in welchem ich stand. Zwischen den
Männern und Frauen unserer Gruppe sah ich meine Eltern stehen.
Sie lächelten mir ermunternd zu. Auch die Gräfin war
da, in ihrer blauen Robe mit dem Sichelmesser hob sich ihre hohe
Gestalt deutlich von den Anderen ab.
Ich sah das kleine Mädchen, die Katze saß ruhig und
mit glitzernden Augen auf seiner Schulter. Aus allen Zeiten waren
sie gekommen, aus den dunkelsten Tiefen der Vergangenheit bis zu
den noch nicht in Erscheinung Getretenen, Zukünftigen. Sie
alle waren hier, um mit uns das Fest zu begehen und die alten,
ewig jungen Götter zu ehren. Auch die kleinen Wesen, zarte,
durchscheinende Elfen, erdfarbige Gnome, märchenhaft schöne
Feen, Baumgeister mit knorriger Gestalt, flüchtige Naturwesen,
die Bewohner anderer Sphären und doch unsere Brüder,
waren gekommen. Kreis um Kreis setzte sich fort bis in schattenhafte
Fernen. Aufmerksam verfolgten sie die Zeremonie, die es ihnen ermöglichen
sollte, wieder in unsere Erfahrungswelt einzutreten, mit und um
uns zu leben und zur Heilung unserer Welt beizutragen. Die Göttin
sprach zu ihnen und zu ihren Geschwistern, den Menschen. Sie sprach
von fernen Vergangenheiten, als die Berge noch nicht geboren waren,
von der unendlich weit zurückliegenden Zeit, in der sich die
Landschaft, in der wir jetzt standen, gebildet hatte.
Hohe, schroffe Gebirgszüge falteten sich vor unserem inneren
Blick auf, wurden abgetragen zu runden, sanften Formen. Was in
Jahrmillionen, unerfahrbar für menschliche Wahrnehmung, vor
sich gegangen war, wurde uns hier in wenigen Augenblicken vorgeführt.
Eiszeiten kamen und gingen in rascher Folge. Steppenlandschaft
breitete sich aus, wo wir standen. Jäger mit Steinwaffen jagten
hinter gewaltigen Hirschen und Rentieren her........... Sie versammeln
sich in einer kleinen Erdhöhle, um sich am Feuer zu wärmen,
ihre Nahrung zuzubereiten und ihre Waffen zu erneuern. Sie führen
ein kleines Mutteridol aus Kalkstein mit sich und stellen es in
der Höhle auf, zum Zeichen dafür, dass der Schutz und
der Segen der Mutter immer bei ihnen sei. Wieder wechselt die Szene.
Wieder versinkt ein Großteil Europas unter ewigem Eis. Als
es zurückgeht: Steppe. Dann beginnen sich mächtige Wälder
auszudehnen, wo vorher Steppe gewesen war. Auf einer kleinen Lichtung
ein winziges Anwesen, aus Flechtwerk erbaut, durch Palisaden eingezäunt.
Ein enger Kriechgang führt in eine kleine Erdhöhle, die
Mutterfigur steht immer noch da, inmitten von Opfergaben: Kupferdolchen,
Ketten mit Fayenceperlen und einem Gefäß aus dunklem
Stein. Wieder wechselt das Aussehen der Landschaft. Die Kuppe des
Berges ist kahl, eine Wehrburg krönt ihre höchste Stelle.
Ein paar kleine Häuser mit Wirtschaftsgebäuden ducken
sich an den Hang, wie, um Schutz zu suchen im Schatten der über
ihnen aufragenden Burg. Kleine Äcker, von wilden Hecken eingefasst,
wechseln mit lichtem Wald ab, in dem Schweine, Kühe und Schafe
weiden. Der Eingang zur Erdhöhle ist mittlerweile verschüttet
und mit Brombeergebüsch verwachsen. Die Einwohner, von Kirche
und Adel eingeschüchtert, meiden den Platz, der bald darauf
zur "Höll" erklärt wird. Was sie in ihrem Inneren
verbirgt, die Höll, wird zerstört, doch die Mutterfigur
und das Gefäß kann von verborgen hausenden "Saligen" noch
vorher versteckt werden. Später, als kein Einwohner mehr an
die Höhle denkt, stellen diese, in der Heimlichkeit der tiefen
Wälder überlebenden "Teufel" die Statue und
die Schale wieder an den heiligen Platz zurück, den sie noch
lange, lange betreuen. Dabei werden sie von den Kleinen Wesen unterstützt,
an die jetzt keiner mehr glaubt. Manchmal begegnet der ein - oder
andere Holzfäller einem von ihnen im Wald. Daraus entstehen
dann die Sagen, die man sich noch heute erzählt, deren innere
Wahrheit aber nicht mehr erkannt wird. Dann ist auch die Zeit der
Saligen abgelaufen. Die Wälder, die ihnen Unterschlupf und
Nahrung geboten hatten, werden mehr und mehr gerodet und machen Äckern
und Wiesen Platz. Ihr Holz dient der Glasindustrie und wird auch
in den rasch wachsenden Städten gebraucht. Die Kuppe des Berges
ist leer. Nach der Zerstörung der Burg wird aus ihren Steinen
eine neue, repräsentative am sanften Südabhang des Berges
erbaut. Die neuen Feuerwaffen lassen Wehrburgen ihren Zweck verlieren.
Das Dorf wächst, Arbeitskräfte werden für den großen
Gurtsbetrieb gebraucht, Leibeigene schaffen den Reichtum der Besitzer. Über
dem ehemaligen Heiligtum wird das Haus des Gutsverwalters erbaut.
Niemand weiß, dass nur wenige Meter neben dem neuen Brunnenschacht
die Erdmutter noch immer über diesen Ort wacht. Dann passiert
das Unglück mit der kleinen Tochter eines der Verwalter in
der langen Reihe von Schaffnern. Die kleine Anna, gerade neun Jahre
alt, bricht durch die morsche Abdeckung des Brunnenschachtes und
stirbt an Schädelbruch. Sie ist eines jener jungen Wesen mit
noch offenen Herzen und Sinnen.
Deshalb vernimmt sie auch den Herzschlag der Grossen Mutter in
der Tiefe, sie folgt ihrer Katze, seit jeher eine Begleiterin der
Göttin, in den Keller, wo das Unheil seinen Lauf nimmt. Hat
die Dunkle in der Tiefe ein Opfer gefordert, um sich für die
lange Zeit ihrer Missachtung zu rächen? Das sind Projektionen
der Menschen, sie fordert keine Opfer, sie verströmt sich
auf die Erde, und nimmt nur zu sich, wessen Zeit abgelaufen ist.
Niemand will mehr in diesem Haus wohnen, es gilt als verwunschener
Ort. Damit haben die Menschen auch Recht, denn Heilige Plätze,
die nicht mehr erkannt und geehrt werden, sind unerlöste
Plätze. Deshalb holte die Göttin eine ihrer Dienerinnen,
eine derer aus Avalon, die immer schon Hüter des Alten Wissens
gewesen sind, hierher, um diesen Ort wieder zum Blühen zu
bringen. Sie würde ihn wieder zu einer "Glasinsel" machen,
ihn wieder mit allen anderen Ebenen verbinden. So könnte
er wieder zu einem heiligen Zentrum, dem Herzen des Landstriches
werden, mit Ihrem Segen.
Langsam schwinden die Visionen, ich bin wieder hier, wo die Anwesenden,
Menschen und Anderswelt - Wesen, Lebende und Verstorbene, andächtig
den Worten der Göttin gelauscht hatten. Nun hebe ich den
Kelch in die Höhe, um Ihre Kraft in ihn einfließen
zu lassen. Er beginnt zu leuchten und pulsiert in meinen Händen
wie ein lebendes Wesen. Sein Leuchten verstärkt sich noch,
als mein Hohepriester ihn auch noch mit der Macht des Gehörnten
füllt. Von Hand zu Mund und von Mund zu Hand wird er weiter
gegeben mit Kuss und Segen. Alle trinken daraus, und dennoch
wird er nicht leer, denn er ist Leib und Seele der großen
Mutter, die sich ewig verströmt und zusammen mit der zeugenden
Kraft des Gottes das Leben erneuert. Dann zieht sich die Göttin
aus meinem Körper zurück und Morgan - Anna trinkt den
letzten Schluck vom Wein, der sich noch im Kelch befindet. Der
ist jetzt leer, doch ich bin voll Freude, Dankbarkeit, Stolz
und Demut zugleich, weil ich Ihr Gefäß hatte sein
dürfen.
"Kikerikiiii!" und wieder "Kikerikiiii!" Vorbei
war es mit der Nachtruhe, obwohl es noch nicht hell war. "Sehr
gewöhnungsbedürftig, dieses Landleben," stellte
ich fest und drehte mich noch einmal herum, um vielleicht wieder
einschlafen zu können. Doch damit war nichts. Um mich herum
schliefen noch alle, wie beneidenswert! Leise, um niemanden zu
wecken, schlich ich mich ins Freie. Ich wollte einen Brunnen finden,
um mich ungestört zu waschen. Sich morgens im Freien im kalten
Brunnenwasser zu waschen, das entsprach meinem Klischee vom "ursprünglichen
Leben". ( Nachtrag: 22. 3. 90: Später, als ich dann wirklich
hier lebte und vorderhand jeden Tag dazu gezwungen war, da wir
noch kein Wasser eingeleitet hatten, träumte ich, besonders
im Winter, von Badewannen, voll mit heißem Wasser. Doch,
wir wollen nicht vorgreifen! Hier war ich also und wusch mich prustend
und schnaubend unter dem kalten Strahl des Brunnens, den ich endlich
doch gefunden hatte.) Das war wirklich erfrischend, und nun war
ich endgültig wach. Wieder schlich ich mich ins Haus. Auf
einem Gaskocher bereitete ich heißen Kaffee, genau das, was
ich jetzt brauchte. Hier, auf der Bank vor "meinem" Haus,
mit Kaffee und Gebäck zum Frühstück, den erwachenden
Tag zu begrüßen; das war eines der Dinge, von denen
ich oft genug geträumt hatte. Nun war es Wirklichkeit geworden.
Zwar noch nicht ganz, aber doch mindestens in erreichbare Nähe
gerückt. Doch, vor allem anderen mussten wir den Brunnen freilegen,
dazu waren wir schließlich her gekommen. Es eilte, dass wusste
ich, wenn auch nicht, warum. Ich ging zurück ins Haus und
ließ, ungeachtet der empörten Proteste, einen lauten
Weckruf erschallen. Verschlafene Gestalten fuhren aus ihren Schlafsäcken
hoch: "He, Anna, bist du vom bösen Schwein gebissen?
Es ist doch noch tiefste Nacht, du Sklaventreiberin, lass uns schlafen!" Gemurre
von allen Seiten. Dann erhoben sie sich aber doch, um etwas später,
Spaten bei Fuß, lachend und witzelnd vor mir zu stehen: "Arbeitskompanie
Ynys Vytrin, vollständig angetreten, gestrenge Frau Hohepriesterin,
aber ohne Kaffee geht hier gar nichts!"
Bald darauf hatten wir einen Holzbock zusammengezimmert, der
die Seilwinde stützen sollte. Wir Frauen sollten in Eimern
die abgegrabene Erde wegtragen, zwei Männer, Alfred und
Georg, wollten abwechselnd mit Spitzhacke und Schaufel in die
Tiefe graben. Franz zog mit Hannes die Seilwinde hoch. Es war
eine mühsame, anstrengende Arbeit. Trotz der Kühle
im Keller schwitzten wir alle bald so, dass unsere Leibchen tropfnass
waren.
Meine tiefste Dankbarkeit gilt meinen Freunden, die mir an diesem
Tag ihre ganze Kraft zur Verfügung stellten, ohne jemals
meine Visionen in Zweifel zu ziehen. Es war schon Mittag, und
wir hatten gerade erst einen Meter in die Tiefe geschafft. Wenn
das so weiterginge, brauchten wir noch einige Wochenenden, um
den Grund des Brunnens zu erreichen. Würden meine Freunde
dann auch noch bereit sein, mir ihre Zeit und Arbeitskraft zu
schenken? Konnte ich das überhaupt von ihnen annehmen? Wie
auch immer, jetzt musste einmal Mittagspause sein, nachher konnten
wir dann sehen, wie weit wir kämen.
Draußen, vor dem Haus, stand die Nachmittagssonne mittlerweile
schon ziemlich tief, bald würden wir aufbrechen müssen,
egal wie weit wir gekommen wären mit unseren Bemühungen.
Der Arbeitsrhythmus wurde schon recht schleppend, wir waren sehr
müde. Hannes arbeitete mit der Spitzhacke. Erstaunlich,
wie gleichmäßig seine Bewegungen noch waren! Trotz
seiner hageren Gestalt war er offenbar sehr zäh. Poch -
poch, poch - poch, hörte ich seine Spitzhacke die verdichtete
Erde lockern. Fast klang es wie Herzschlag, stetig und gleichmäßig.
"Zigarettenpause!" tönte Georgs Stimme neben mir.
Helga, Beate und Hannes folgten sichtlich erleichtert diesem Signal.
Vier glühende Punkte glommen in der Dunkelheit des Kellers
auf. Ich fragte erstaunt: "Und Hannes, hat er sich etwa das
Rauchen abgewöhnt, oder ist er schon in Spitzhackentrance?“ fragte
ich erstaunt. „Ich bin hier, neben dir, hier arbeitet keiner“,
erklang Hannes' Stimme neben mir, " außer vielleicht
der unheimliche Geister- workaholic, huhu!" Dieser musste
sich jetzt geradezu in einen wahren Arbeitsrausch hinein steigern,
denn immer lauter wurde das Pochen. "Lacht nicht! " rief
ich, jetzt schon alarmiert, "dieses Geräusch kenne ich,
wir müssen ganz nah sein, ich brauche mehr Licht!" Jemand
reichte mir eine starke Stablampe, und ich stieg in die Grube hinunter.
Sie war inzwischen schon zwei Meter tief geworden. Das Geräusch
kam aus der Wand des Brunnenschachtes, laut und deutlich war es
zu hören, offenbar aber nur für mich.
"Klopf die Wand ab," riet Franz mir und reichte mir
einen Hammer herunter, worauf sich mein Hämmern zusammen mit
dem Pochgeräusch zu einem wilden Stakkato aufschaukelte. Einer
der unregelmäßigen Steine brach aus der Wand. Fast wäre
er mir auf die Zehen gefallen, ich konnte mich gerade noch durch
einen raschen Sprung davor retten. Das Loch gähnte mir wie
ein dunkler Rachen entgegen, das Schlagen des Herzens, wem auch
immer es gehören mochte, drang daraus hervor, jetzt durch
keine Wand mehr gedämpft. In meiner Aufregung konnte ich nur
heiser flüstern: "Ich habe es gefunden, kommt, schnell!" Hektisches
Gescharre, Stimmen rufen durcheinander, Lampen werden angezündet,
Hannes steigt in den Schacht und bricht mit einer Eisenstange weitere
Steine aus der Wand. Atemlose Stille herrscht, als wir, einer nach
dem Anderen, durch das Loch klettern.
Ich kenne diesen Ort, ich war schon hier gewesen, damals, als
Georg meine geistige Spur verloren hatte auf unserer Reise. Finsternis,...
Enge,... Kälte,... Feuchtigkeit... Meine
Hände vorstreckend, taste ich mich weiter und stoße
gegen Erdbrocken. Sie versperren mir den Weg. Ich muss sie wegräumen,
es geht so schwer, so schwer. Ich grabe, grabe, wie ein großer
Maulwurf grabe ich mich durch die weiche Erde. Endlich gibt sie
nach, da streift ein Luftzug meine Wange, dann trete ich auf
festen Grund. Wie im Traum gehe ich sicher und unbeirrt durch
diesen, sich jetzt erweiternden Gang. "Warte, Anna, geh
nicht allein! Wer weiß, ob der Gang hält! So warte
doch auf mich!" Georgs Stimme klingt alarmiert und besorgt,
doch wie durch Watte, zu mir durch das immer lauter werdende
Klopfen, dem ich, willenlos wie eine Marionette, folge, folge....bis
ich in der Erdhöhle stehe, die von schattenhaften Gestalten
erfüllt scheint. Geflüster, Geraune: "... endlich
... gekommen ... endlich ... endlich ..." Auf dem Podest
aus Erde steht sie, die kleine Figur aus Kalkstein, Sie, die
so lange gewartet hat. Mit bebenden Fingern nehme ich sie auf
und drücke sie an mein Herz, das im gleichen Rhythmus schlägt
wie das Ihre.
Die Freunde sind mir jetzt alle nachgekommen und stehen im Halbrund
um das Podest. Ihre Mienen drücken fassungslose Verwunderung
aus. Wo die Figur gestanden hatte, wird nun eine Vertiefung sichtbar.
Ihr entnehme ich eine ziemlich kleine, kelchartige Schale aus dunklem
Stein. Sie beginnt rhythmisch, im Herzschlag zu pulsieren und leuchtet
das Dunkel aus mit strahlendem Licht, das keine physikalische Quelle
hat. Ich hebe sie hoch, präsentiere sie der versammelten Runde
und Georg flüstert ehrfürchtig: "Der Gral, sie hat
den Heiligen Gral gefunden!"
In der tiefen Stille, die sich jetzt ausbreitet, beginnt aus
mir ein Lied aufzusteigen, dumpfe Töne, wie aus der Tiefe
der Erde geboren, bringen die Luft der Höhle zum Vibrieren. "Ancient
mother, I hear you calling, ancient mother, I hear your song,
ancient mother, I hear your laughter, ancient mother, I taste
your tears." Andächtig und ergriffen singen alle meine
Geschwister mit. Hohe und tiefe Stimmen, dunkle und helle mischen
sich zu einem Akkord der Anbetung, der die Höhle erfüllt.
"Die Statue soll hier bleiben. Hier ist ihr Reich seit Jahrtausenden,
und hier soll die heilige Stätte wieder erstehen, offen
für alle Menschen, die der Mutter Ehre erweisen wollen,
ungeachtet ihres Bekenntnisses und der Namen, welche sie Ihr
geben. So sei es!" sprach ich laut in den Klang des Liedes
hinein und stellte die Figur wieder an ihren Platz. Das Singen
hatte sich jetzt verändert:.."Isis, Astarte, Diana,
Hekate, Demeter, Kali, Inanna... Isis, Astarte, Diana, Hekate,
Demeter, Maria, Inanna..." klang gefühlvoll das
Singmantra, das unsere Gruppe bei allen Festen gerne intonierte.
Und so singend, wandten wir uns um und gingen den sich wieder
verengenden Gang zurück zum Brunnenschacht. Die Schale nahm
ich mit. Sie sollte bei unseren heiligen Handlungen der Kelch
der Erneuerung sein.
Alle waren wieder an die Oberfläche geklettert. Die Werkzeuge
wurden eingesammelt und sollten zu den Autos gebracht werden.
Da, plötzlich, lautes Rumpeln, Krachen! Staub, aus dem Einstiegsloch
dringend, hüllte uns ein. Als er sich wieder legte, erkannten
wir, dass der Gang zur Höhle eingestürzt war. Betroffenes
Schweigen breitete sich aus, in dem man die Gedanken der Einzelnen
förmlich hören konnte: "Wenn sich nun noch jemand
in der Höhle befunden hätte...? Oder vielleicht alle?
Niemand hätte uns dann gefunden!" An dieser Vorstellung
wollte niemand lange festhalten, und doch stieg sie immer wieder
auf in jedem von uns und erfüllte uns mit Schaudern. Ich
aber wusste jetzt endlich, warum ich so dringend hierher gerufen
worden war, es war wirklich der letzte Moment gewesen. Später
hätte niemand mehr den Einstieg gefunden, die Hüterin
des Ortes wäre in den Grüften der Vergessenheit begraben
geblieben, der Kelch der Erneuerung hätte sein segensreiches
Wirken vielleicht niemals entfalten können. (Nachtrag: Monate
später fanden wir dann einen anderen Zugang; aber das ist
eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.)
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