20. Jänner 1989
Ich werde immer mehr zum Einsiedler und all meine Aktivität
hat sich ganz in mein Inneres verlagert. Dort allerdings bin ich
hochaktiv. Aber es ist Winter, auch die Natur hat sich zurückgezogen,
also bin ich ganz im Einklang mit den natürlichen Zyklen und
das ist ein gutes Gefühl. Mit inbrünstiger Begierde lese
ich alles, was ich über das Thema Avalon, den Sagenkreis um
Artus, die Alte Religion, Mythologie, Reinkarnationstheorien und
all diese Dinge finden kann. Ich habe begonnen regelmäßig
zu meditieren und praktiziere die magischen Übungen aus dem
Buch meines geheimnisvollen Harfenspielers. Manchmal, wenn ich
versuche mich mit den Augen Außenstehender zu betrachten,
finde ich meine Aktivitäten höchst skurril. Kleine, maßstabgetreue
Papppyramiden stehen an allen möglichen Plätzen meiner
Wohnung, weil ich ein Buch über ihre besonderen Energien gelesen
habe. Ich verteile Kristalle an diversen neuralgischen Punkten
meines einzigen Zimmers, denn ich habe auch einige Bücher über
Edelsteinenergien gelesen und nun will ich auch alles selbst ausprobieren.
Ich sauge alles Erreichbare auf wie ein trockener Schwamm. Dabei
bin ich mir bewusst, dass möglicherweise auch einiges an Unsinn
dabei ist.
Aber, ich glaube, ein angeborener innerer Wahrheitssinn lässt mich diese
Dinge unverdaut wieder ausscheiden und das Brauchbare durch einen unerforschlichen
Selbstregulationsmechanismus absorbieren. Ich fühle mich geleitet und
geführt von dieser unsichtbaren Instanz, der ich mich vollkommen anvertraut
habe. Sie ist es, die mich treibt, nach etwas Bestimmtem zu suchen, wonach
genau, weiß ich noch nicht.
Am Ende dieses Weges aber werde ich den verheißenen Schatz finden, vielleicht
auch mich selbst. Ich bin jedenfalls dem Geheimnis, was immer es auch ist,
auf der Fährte, wie ein Fuchs seiner Beute, und ich komme ihm näher.
Nach allem, was ich bisher gelesen, erfahren, erprobt und über andere
Kanäle aufgenommen habe, wird mir eines immer bewusster: Ich fühle
mich zum Alten Weg des europäischen Westens hingezogen, zu der Symbolwelt
der Naturreligionen, zum Mythos der Grossen Mutter.
Ein leises Raunen, ein Locken und Werben dringt aus uralter Zeit zu mir durch
und flüstert mir zu: "Komm zu mir, meine Tochter, ich warte schon
so lange!" Doch mein Verstand muss wohl noch eine Zeitlang seine eigenen
Wege gehen, dann wird ihn vielleicht die Intuition an der Hand nehmen, wie
eine geduldige Mutter, die ein Kind liebevoll bei seinen kleinen und größeren
Ausflügen beobachtet und nur eingreift, wenn es notwendig ist. Dann werden
mit einem Mal meine kleinen Überspanntheiten von mir abfallen, von einem
Tag auf den anderen, das weiß ich jetzt schon. Dann werde ich bereit
sein. Wie ein Same, der, wenn es Frühling wird, darauf wartet, Wasser
aufzunehmen und sein Wesen zu entfalten, harre ich auf etwas, auf die Initialzündung
gleichsam, um in mein neues Medium hineinzuwachsen.
Das alles hat sich in der unglaublich kurzen Zeit von nur drei
Wochen vollzogen, wie in einem Zeitraffer, stellte ich mit ungläubigem
Staunen fest, als ich vor kurzem auftauchte aus dem Meer der Wandlungen
und bemerkte, dass die Weihnachtsdekorationen aus den Strassen
verschwunden sind. Es ist mittlerweile die dritte Jännerwoche
und in den Auslagen ist der Fasching mit all seinen anscheinend
unvermeidlichen Versatzstücken ausgebrochen. Kaum zu glauben,
dass ich in dieser Zeit doch auch meiner Arbeit nachgegangen bin!
Wer hat in dieser Zeit im Alltagsleben für mich funktioniert,
welcher Teil von mir hat der Umwelt die Anwesenheit von Anna Waldstein
vorgegaukelt, während diese anderwärtig beschäftigt
war?
23. Jänner 1989
Der Winter nimmt den Verlauf, den er auch in den Jahren vorher immer genommen
hat. Schneefall wechselt mit Tauwetter und dieses wiederum mit Glatteis ab,
ein unerschöpfliches Thema für Small Talk und Gesprächsanbahnung,
der Tenor dabei natürlich, dass dies alles ganz fürchterlich sei.
Doch wer von meinen Zeitgenossen nimmt die Zunahme der Tageshelligkeit wahr,
bemerkt das Steigen der Säfte in den Bäumen, das jetzt gerade beginnt
oder fühlt die Bereitschaft der im Boden wartenden Samen zu keimen und
zu sprießen?
Wie nie zuvor schmerzt mich der freudlose Ausdruck in vielen Gesichtern, welch
ein Kontrast zur betonten Lustigkeit des Faschings! Immer mehr werde ich der
Tatsache gewahr, dass die Stadt mit ihren speziellen Bedingungen zwar scheinbar
vor Lebendigkeit pulsiert, die überwältigende Macht des Lebens aber
vor uns verbirgt. Leise zwar, doch mit zunehmender Dringlichkeit wächst
in mir der Wunsch nach mehr selbstverständlichem Kontakt mit der Natur.
Deshalb fahre ich jetzt oft nach Dienstschluss mit der Straßenbahn in
den Wienerwald hinaus und unternehme dort lange Spaziergänge. Dabei ist
mir kürzlich bewusst geworden, dass viele Bäume keinen Namen für
mich haben. Kräuter und Blumen gibt es zu dieser Jahreszeit ja nicht.
Ich besorgte mir deshalb einen Baumführer und aus anonymen Gehölzen
wurden gute Bekannte, die man herzlich begrüßt, wenn man sie trifft.
Ich nehme nun Kontakt mit ihnen auf, berühre, begreife sie, lehne mich
an sie und umarme sie häufig wie Freunde. Das sind sie ja schließlich
auch, wenn man es genau betrachtet. Manchmal spreche ich auch zu ihnen und
sie, ja, sie antworten mir, in ihrer, ihnen eigenen, leisen und langsamen Sprache,
die nur von Herz zu Herz gesprochen werden kann.
Ich spreche dabei auch zu mir selbst, während dieses Selbst mir mit der
Stimme der Bäume antwortet und mir Geheimnisse über eine geheimnisvolle
Unbekannte namens Anna Waldstein erzählt.
Oder ich beobachte die Vögel bei ihrer Futtersuche, manchmal begegnet
mir auch ein Reh oder ein Hase bei meinen stillen Wanderungen. Immer aber bin
ich alleine, einzig in Kontakt mit mir selbst und damit auch mit der Natur,
die mich umgibt. Ich suche immer noch keinen Kontakt zu anderen Menschen in
diesen stillen Tagen. Die neue Verbindung zu meinem Inneren scheint all meine
Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen und mein Gemüt und meine Sinne sind
so weit offen, dass jede oberflächliche Unterhaltung, jeder laute Ton,
mich wie eine schrille Dissonanz schmerzen würde.
Als ich heute von einer dieser Wanderungen heimkam, fand ich im
Postkasten einen Brief mit dem Absender: Buchhandlung Avalon. Ach
ja, ich hatte das Buch noch nicht zurückgegeben, das Margot
mir geborgt hatte, peinlich, dass ich mich mahnen lassen musste!
Schuldbewusst öffnete ich den Brief. Es war eine Einladung.
"Liebe Anna!" stand da, "Am kommenden Mittwoch ist Vollmond. Möchten
Sie an unserem Vollmondfest teilnehmen? Wir treffen uns um 19 Uhr in der Buchhandlung.
Bitte ziehen Sie sich sehr warm an, es findet nämlich im Freien statt. Wir
würden uns sehr freuen über Ihre Teilnahme. Unterschrift: Der Ynis
Vytrin Coven."
Was war denn das schon wieder, ein Coven? Diese Buchhandlung birgt jedes Mal Überraschungen
für mich! Aber ich werde teilnehmen, das steht für mich fest. Manchmal
meldet sich immer noch die altvertraute, kritische Stimme in meinem Kopf. Sie
ist eine innere Feindin. Sie hat mich lange genug unter ihrer Knute gehalten,
die sie im Namen der so genannten Realität schwang. Wessen Realität?
Immer dachte ich, es gäbe nur die eine. Doch meine ist anders und ich
lerne zu ihr zu stehen. Das bedeutet Kampf!
Obwohl ich bereits gelernt habe, sie in ihre Schranken zu weisen, ganz zu vertreiben
getraue ich mir sie nicht. Oftmals erweist sie sich auch als ganz nützlich,
vorläufig jedenfalls.
"Musst du auf deine alten Tage noch den Mond anheulen, dummes Ding? Machst
wohl jetzt auf übersinnlich, da sich mit sinnlich nichts abspielt, was?
Hast du denn keine anderen Probleme? Engagiere dich lieber politisch oder lerne
Sprachen!" Irgendwie klingt die Stimme ähnlich wie die meiner Mutter,
aber andererseits ist es doch unverkennbar meine eigene.
"Du bist auf diesem Gebiet nicht kompetent, also halt den Mund!" entgegnete
ich barsch, jedoch leicht verunsichert. Da hakte sie sofort nach, sie hatte an
Terrain gewonnen. "Für deinen bärtigen, Harfen spielenden Taxifahrer
bist du wahrscheinlich ohnehin nur so eine unbefriedigte, mittelalterliche Tussi,
die ihre sexuelle Frustration esoterisch aufputzt. Da solltest du doch darüber
stehen!" Jetzt war es aber genug, sie musste lernen, wer der Herr, nein,
die Frau im Haus war! Wütend schmiss ich eine Tasse, die ich gerade vom
Bord genommen hatte um mir Tee einzuschenken, auf den Boden, wo sie klirrend
zersprang. "Raus aus mir, du bösartige Megäre und lass dich nie
wieder hören! Komm erst wieder, wenn du mir wirklich helfen willst, sonst
brauch ich dich nicht! Und dass du's nur weißt und wenn du zerspringst,
du eifersüchtige Fuchtel, ich geh' dorthin und wenn ich tausendmal eine
unbefriedigte, alte Tussi bin!"
Weg war sie, und weg blieb sie, wenigstens für einige Zeit. Hoffentlich,
denn in letzter Zeit nervt sie mich gewaltig!
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