6.
November 1988
Nachtrag zum 1. November: Ich wählte Myriams
Telefonnummer. Das Freizeichen ihres Apparates ertönte wieder
und wieder, endlich wurde abgehoben. Doch es war nicht Myriam, die
sich meldete. Eine verschlafene Stimme tönte aus dem Hörer,
Billy oder Lilly oder so ähnlich, eine Mitbewohnerin aus ihrer
Wohngemeinschaft, wie sich herausstellte. Myriam sei nicht hier,
sie sei gestern nach der Vorlesung mit einem gewissen Sascha weggefahren,
zu Freunden aufs Land, wie sie sagte. Mehr wisse sie leider auch
nicht, sagte die schläfrige Unbekannte, dann hängte sie
ein.
Da stand ich nun und fragte mich, ob ich denn nun verärgert
sei, um gleich darauf festzustellen, dass ich das eigentlich nicht
war. Ging ich eben alleine auf den Friedhof! Ich musste mir eingestehen,
dass ich an Stelle meiner Tochter auch nicht anders gehandelt hätte.
Ich hätte mich sicherlich auch einem Friedhofsbesuch entzogen,
vor allem an diesem Datum. In der Kindheit hatte ich eine fast phobische
Abneigung gegen Friedhöfe. Heute, als Erwachsene, habe ich
diese Angst schon etwas überwunden, ein leichtes Unbehagen
aber ist immer noch geblieben. Die Auseinandersetzung mit dem Sterben
aber steht noch an, sie lässt sich nicht mehr lange hinhalten,
das spüre ich. Außerdem wirken diese abgegrenzten, penibel
gepflegten Gräber immer wie Schrebergärten für tote
Kleingärtner auf mich. In Wien ist diese Mentalität sehr
ausgeprägt. Diese Mischung aus Sentimentalität, Kleingartenatmosphäre
und Verbrüderung mit dem " Freunderl" Tod ist für
mich die Essenz des sogenannten " Gmüats" ( für
Nicht- Wiener: Gemüt, aber eigentlich unübersetzbar),
dieses Ausflusses des sogenannten Goldenen Wiener Herzens, einer
Mystifikation, wie so viele Klischees. Bei näherem Hinsehen
erscheint dieses Gold oftmals höchst fragwürdig, höchstens
als Katzengold. Aber einer in der Familie muss ja, man kann ja nicht
immer tun, was man gerade will - kann man nicht? - Wer ist "man"?
Bin ich "man"? Wenn ich nicht "man" bin, wer
bin ich dann? Ich, die mittelalterliche, pflichterfüllende
Durchschnittsfrau oder Ich, die wunderschöne, schlanke, begehrenswerte
Frau auf der Apfelbaumwiese? Bei diesen Überlegungen verspürte
ich wieder diesen unvergesslichen Apfelgeschmack auf der Zunge und
mir war so gar nicht nach Friedhof zumute.
An diesem Tag ging ich nicht auf den Friedhof. Ich verschob meinen
Besuch dort auf unbestimmte Zeit und beschloss, Lust und Laune für
mich bestimmen zu lassen. Stattdessen holte ich nach langer Zeit
mein Rad wieder aus dem Keller und fuhr damit zum westlichen Ende
der Stadt. Es gab da einen Berg, auf dem ich als Kind mit meinen
Eltern oft gewesen war. Beim Aufstieg ließ ich das geschlossene
Siedlungsgebiet langsam hinter mir, später führte mein
Weg durch eine Villensiedlung, und zuletzt blieben auch die Schrebergärten
hinter mir zurück. Wie durch ein Tor trat ich ein in den stillen
Herbstwald, ein Tor aus zwei mächtigen, alten Eichen, die aussahen,
als legten sie ihre Astfinger auf imaginäre Lippen, um Eintretende
zur Stille zu mahnen. Das abgefallene Laub raschelte unter meinen
Füssen, als ich drinnen watete wie in flachem Wasser. Als Kind
hatte ich dieses versunkene Waten im Laubmeer so sehr geliebt, meine
Strümpfe und Kleider waren davon immer ganz staubig gewesen,
zum Leidwesen meiner Mutter, die damals noch einmal im Monat in
der Zentralwaschküche unseres städtischen Wohnhauses am
Waschtrog die Familienwäsche waschen hatte müssen.
So versunken in halbvergessene Kindheitserinnerungen, war ich bald
auf dem Gipfel angelangt und setzte mich auf einen umgefallenen
Baum auf einer kleinen Lichtung, die wie eine Tonsur den höchsten
Punkt des Berges krönte. Durch die entlaubten Baumkronen der
Buchen und Eichen fielen wärmende Herbstsonnenstrahlen auf
das fahle Gras. Hier war ein besonderer Platz, wie eine Insel, ein
kleines Stück abgerückt nur vom Normalalltag, doch irgendwie
verzaubert. Ganz still blieb ich sitzen. Ich rührte mich nicht,
denn ich wusste, dass ich mit der geringsten Bewegung den Zauber
unweigerlich gebrochen hätte, der diesen Ort umsponnen hielt.
Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie
lange ich an diesem friedvollen Ort gewesen war. Ich bemerkte nur,
dass die Sonne verschwunden war und es schnell kalt wurde. Als ich
wieder zu meinem Fahrrad kam, war es schon dunkel.
Zu Hause zündete ich eine Kerze an, stellte sie auf meinen
kleinen Couchtisch und legte eine CD mit einem Flötenkonzert
von Vivaldi auf, bevor ich mich mit einem Glas Wein niederließ.
Im Geist leistete ich meinen Eltern Abbitte, weil ich nicht an ihrem
Grab gewesen war. So viel war zwischen uns ungesagt geblieben, als
sie viel zu schnell und rasch hintereinander gestorben waren.
Ihr Leben war schwierig und bewegt gewesen, wohl aus dem Grund,
weil auch ihre Zeit geprägt war von schroffen Gegensätzen,
extremen Ideologien und Kriegen.
Kennen gelernt hatten sie einander in der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen. Ihre Jugendjahre waren voller revolutionärer Aufbruchstimmung,
Arbeitslosigkeit und Freikörperkultur gewesen. Auf alten Fotos,
die ich mir immer wieder gerne anschaue, blicken mir forsche, junge
Frauen mit Bubiköpfen und Männer im Wanderoutfit entgegen,
die dem Betrachter zuzurufen scheinen: "Sieh uns an, wir sind's,
'das Bauvolk der kommenden Zeit'! Wir haben alles abgestreift, was
unsere Eltern band. Wir spüren das Feuer des Aufbruchs in uns
und werden eine gerechtere Welt erschaffen!" Grundsätzlich
waren sie immer in Gruppen aufgetreten. Privatheit hatte als reaktionär
gegolten und war ob der Wohnungsnot auch unmöglich gewesen.
Die politischen Gruppierungen von Rechts und Links hatten einander
mehr und mehr polarisiert, die Folge, der Bürgerkrieg hatte
auch meine zukünftigen Eltern in verschiedene politische Gruppen
geteilt: mein Vater trat in die Kommunistische Partei ein, meine
Mutter blieb bei den Sozialisten. Sie war immer weniger kämpferisch
gewesen. Die Jugendbewegung war in diesen Jahren trotzdem beider
Heimat geblieben. Dann waren die Jahre des wachsenden Faschismus
gefolgt. Mein Vater war immer mehr in die Widerstandsbewegung hineingewachsen.
So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er nach dem sogenannten
Anschluss, durch Denunziation aufgeflogen war, er und eine Gruppe
Gleichgesinnter.
Im Morgengrauen (und Grauen war ab diesem Zeitpunkt alles gewesen)
eines bösen Tages hatte die Gestapo an die Türe der kleinen
Gemeindewohnung gepoltert und ihn weggeführt zu Todesurteil,
Begnadigung und jahrelangem Zuchthaus. Meine Eltern waren deshalb
schon relativ alt gewesen, als ich als spätes Einzelkind zwei
Jahre nach dem Kriegsende zur Welt gekommen war. Nach dem Zusammenbruch
des Tausendjährigen Reiches waren mein Vater und seine Haftgenossen
von den Amerikanern befreit worden und auf abenteuerlichen Wegen
nach Hause zurückgekehrt, krank an Leib und Seele. Meine Geburt
war für ihn zum Symbol für eine neuere, hellere Zukunft
geworden, in seinem Kind sollten alle seine Träume und Ideale
wieder lebendig werden. Diese Erwartungen hatte ich unbewusst gespürt,
deshalb war ich ein sehr "braves" Kind , bis ich viel
zu früh, von meinem späteren Mann schwanger geworden war.
Seine Tochter, von der er sich so viel erhofft hatte, sollte nicht
als halbes Kind selbst ein Kind haben und sich damit "die Zukunft
verbauen", wie er es nannte. Beide Eltern waren sehr dagegen
gewesen, dass ich das Kind zur Welt brachte.
Aber ich, was erträumte und erhoffte ich für mich? Es
war mir zur zweiten Natur geworden, die unausgesprochenen Erwartungen
meiner Eltern zu erfüllen, deshalb stellte ich mir diese Frage
offenbar gar nicht. Wie seltsam mir das heute vorkommt! Wo war nur
dieses Ich mit allen seinen Träumen, Hoffnungen und Erwartungen
damals, wo versteckte es sich? Es glaubte wohl, nur geliebt werden
zu können, wenn es sich den Wünschen der anderen unterwarf.
Mein Liebster, erfüllt von künftigem Vaterstolz und in
Träumen von heiler Familie gefangen, wünschte sich dieses
Kind. Also bekam ich es, ohne Wenn und Aber, gegen den Willen meiner
Eltern. Das erste Mal im Leben widersetzte ich mich ihren Wünschen,
nicht um meines eigenen Willen, sondern wegen dem meines Geliebten.
Schlimm, wenn ich bedenke, dass dieser Trancezustand meines Ich
so lange angehalten hat, genau genommen bis zu dem bedeutsamen Datum
„31.Oktober 1988“, dem großen Umsturz. Obwohl
meine Eltern sich später mit der Situation abgefunden hatten,
war das der letzte Anstoß zu der schweren, bösartigen
Erkrankung gewesen, die meinen Vater in wenigen Jahren dahingerafft
hatte.
Damit war der Lebensinhalt meiner Mutter dahin, wohl hatte sie
sich auch damit verausgabt, meinen kranken Vater zu pflegen und
sein Dahinschwinden machtlos miterleben zu müssen. Obwohl sie,
trotz ihrer anfänglichen Ablehnung, zärtlich an ihrer
Enkeltochter gehangen hatte, war sie einige Jahre später an
einer Herzerkrankung gestorben.
Dies alles war mir seither schwer auf der Seele gelegen. Wie ein
zu enges Kettenhemd hatte es mir den Raum zum freien Atem genommen.
Mit der Zeit hatte ich aufgehört seinen Druck bewusst zu spüren,
dennoch war er unterschwellig immer da gewesen. Den seinerzeitigen
Auftrag meiner Eltern an mich, unausgesprochen zwar, doch unmissverständlich,
versuche ich heute noch zu erfüllen. Er lautete: "Entspreche!"
Der Abend war über diese Erinnerungen unbemerkt in eine bewölkte,
etwas neblige Nacht übergegangen. Nun würde das Wetter
sich, nachdem es noch eine kurze Spanne Sommer gespielt hatte, der
eigentlichen Jahreszeit entsinnen und rasch auf Spätherbst
umschalten.
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